Berlin. Mit Gottesdiensten, Andachten und Kranzniederlegungen ist 20 Jahre nach dem Fall der Mauer in Deutschland auch an die Reichspogromnacht vor 71 Jahren erinnert worden. Am 9. November 1938 seien überall in Deutschland jüdische Bürger "angegriffen, zu Hunderten getötet oder in den Selbstmord getrieben" worden, erklärte Bundespräsident Horst Köhler. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, bedauerte unterdessen, dass in diesem Jahr das Gedenken an die Pogromnacht "von der Freude über 20 Jahre Mauerfall" überlagert wird. In Zukunft müsse ein Weg gefunden werden, beider Ereignisse in angemessener Form zu gedenken.

Der 9. November 1938 und der 9. November 1989 seien miteinander verbunden, erklärte Köhler. An "diesem Tag der Freude" vergesse Deutschland nicht die Reichspogromnacht. 1938 sei aus der Diskriminierung der Juden "endgültig systematische Verfolgung bis hin zum Massenmord" geworden, erklärte der Bundespräsident. Die Teilung habe 1989 auch deshalb überwunden werden können, "weil wir Deutsche die nötigen Lehren aus unserer Geschichte zwischen 1933 und 1945 gezogen haben". Darum habe die Welt Deutschland 1989 vertraut. Darum hätten die Deutschen die Einheit in Freiheit wiedererlangt. "Diesen Zusammenhang und die daraus wachsende Verantwortung werden wir immer beherzigen", versicherte Köhler.

Knobloch warnte, Antisemitismus und Volksverhetzung seien "in Deutschland nach wie vor ein ernst zu nehmendes Problem", dies zeigten die jüngsten antisemitischen Parolen an der Dresdner Synagoge. Braunes Gedankengut sei in alle Bereiche der Gesellschaft eingesickert, sagte Knobloch. Allein im ersten Halbjahr seien 550 antisemitische Straftaten begangen worden.

Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind, sah den 9. November 1938 und den Tag des Mauerfalls "untrennbar miteinander verbunden". Süsskind sagte weiter: "Denn die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas war eben eine Folge des nationalsozialistischen Terrors." Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, sagte bei einem ökumenischen Gottesdienst in Berlin: "Die Erinnerung an den 9. November 1989 und nicht weniger die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse der Reichspogromnacht am 9. November lehren uns unmissverständlich: Mauern - ob real oder in den Köpfen der Menschen - lösen keine Probleme. Sie schafften vielmehr Probleme und verbauten die Zukunft." Die nordelbische Bischöfin Maria Jepsen sagte, am 9. November solle auch der Pogromnacht von 1938 gedacht werden. Zwar dürfe Gedenken nicht zum Ritual verkommen, dennoch seien Rituale notwendig, um sich der Schuld und Verantwortung immer neu bewusst zu werden, sagte Jepsen bei einer Gedenkveranstaltung in Lübeck.

Angestachelt durch die NS-Propagandamaschinerie hatten Verbände von SA und SS am 9. November 1938 Synagogen in Brand gesetzt, Geschäfte geplündert und die Wohnungen von Juden demoliert. Infolge der Ausschreitungen kamen Hunderte Menschen ums Leben.