Gesundheit, Bildung, Integration: Auf vieles konnten sich Union und FDP einigen. Dem Abendblatt liegt der Entwurf des Koalitionsvertrags vor.

Verzicht auf "Sondervermögen"

Hamburg/Berlin. Der heftig umstrittene "Schattenhaushalt" mit neuen Milliardenschulden für die Sozialkassen ist geplatzt. Nach viel Kritik verzichteten Union und FDP darauf, bereits für dieses Jahr ein "Sondervermögen" einzurichten und dafür einen Nachtragsetat vorzulegen. Die krisenbedingten Einnahmeausfälle bei Kranken- und Arbeitslosenversicherung sollen nun aus Steuermitteln finanziert werden. Dabei geht es um eine Größenordnung von 20 Milliarden Euro. Damit wird auch der Spielraum für die geplanten Steuersenkungen kleiner.

Integrationsvertrag für Zuwanderer

Union und FDP wollen Zuwanderer zum Abschluss eines sogenannten Integrationsvertrags verpflichten. Damit will die künftige Regierungskoalition die Eingliederung von Migranten verbessern. Die Verträge schließt der Staat mit jedem neuen Zuwanderer, aber auch mit schon länger im Land lebenden Migranten. Darin werden demnach alle Maßnahmen festgelegt, die der Zuwanderer und der Staat für eine erfolgreiche Integration erfüllen müssen. Diese Vereinbarung soll kontinuierlich überprüft werden. Um den Dienstleistungscharakter der Ausländerbehörden stärker herauszustellen, sollen diese künftig Aufenthalts- und Integrationsbehörden heißen. Strittig ist noch ein von der FDP favorisiertes Integrationsgesetz, das alle Bestimmungen zu Integrationskursen, -verträgen, und -beratung umfasst. Die große Koalitionsrunde muss dem noch zustimmen. Um die Deutschkenntnisse der Kinder von Zuwanderern zu fördern, wollen die Koalitionäre auch die Eltern notfalls zum Erlernen der deutschen Sprache zwingen. Wenn mangelnde Deutschkenntnisse der Eltern das Kindeswohl gefährden, sollen sie zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichtet werden.

Bildung

Die Koalition will einen Schwerpunkt auf frühkindliche Bildung setzen, insbesondere die Sprachförderung ausweiten. Verständigt haben Union und FDP sich darauf, jährlich drei Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung zu stecken. Nur so könne das Ziel, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür auszugeben, erreicht werden, sagte Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) gestern Abend. Noch strittig ist offenbar, wie das Elterngeld weiterentwickelt wird. Geplant sind die Stärkung der Partnermonate und ein Teilelterngeld von bis zu 28 Monaten. Laut Vertrag will die Koalition zudem einen staatlichen Zuschuss für künstliche Befruchtung einführen. Es soll "eine bundesweite Umsetzung" des sächsischen Modells geben. Sachsen zahlt seit März kinderlosen Ehepaaren staatliche Zuschüsse für künstliche Befruchtungen. Unklar ist noch, ob die Hilfe auch nicht verheirateten Frauen offenstehen soll.

Härtere Jugendstrafen

Mit einem nationalen Aktionsplan will die Koalition die Medienkompetenz von Jugendlichen stärken und die Gewalt- und Suchtprävention ausbauen. Gleichzeitig wird das Jugendstrafrecht reformiert: Die Höchststrafe für Mord wird auf 15 Jahre Jugendstrafe erhöht. Bisher liegt sie bei zehn Jahren.

Höheres Schonvermögen bei Hartz IV

Die finanzielle Situation von Langzeitarbeitslosen soll verbessert werden. CDU/CSU und FDP wollen das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifachen. Damit können Hartz-IV-Empfänger künftig mehr von dem für das Alter gesparte Geld behalten. Zudem sollen sie mehr hinzuverdienen dürfen, ohne dass das Arbeitslosengeld gekürzt wird. Selbst genutzte Immobilien sollen nicht mehr angerechnet werden.

Internetsperren ausgesetzt

Im Bereich Innere Sicherheit findet sich eine deutlich liberale Handschrift. Die umstrittene Online-Durchsuchung zur Terror-Abwehr beim Bundeskriminalamt (BKA) wird unter den Vorbehalt der Zustimmung eines Richters am Bundesgerichtshof gestellt. Die Sperrung kinderpornografischer Internetseiten und die Vorratsdatenspeicherung (Ausnahme bei Angriff auf Leib und Leben) werden zunächst ausgesetzt. Gesetzlich verpflichtet werden sollen Zeugen, bei der Polizei auszusagen. Diese Pflicht gibt es bisher nur für Aussagen vor Richter und Staatsanwalt. Die kommerzielle Sterbehilfe wird unter Strafe gestellt.

Mehr Datenschutz

Als Reaktion auf die Datenschutz-Skandale will die Koalition die Rechte der Bürger stärken. Das Arbeitnehmerschutzgesetz soll verbessert werden, um Arbeitnehmer besser vor Bespitzelungen am Arbeitsplatz zu schützen. Es dürfen dann nur noch Daten verarbeitet werden, die für das Arbeitsverhältnis erforderlich sind.

Homo-Rechte ausgeweitet

Die Gleichstellung von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften wird vorangetrieben. Die familien- und ehebezogenen Regelungen für Besoldung, Versorgung und Beihilfe bei Beamten sollen auch für Homo-Ehen gelten.

Flexiblerer Renteneintritt

Einig ist sich Schwarz-Gelb, die Lebensarbeitszeit zu flexibilisieren. Arbeitnehmer sollen mehr Möglichkeiten erhalten, den Zeitpunkt ihres Renteneintritts frei wählen zu können. Die Rentensysteme in Ost und West sollen angeglichen werden. Erziehungsleistungen sollen bei der Rente noch besser berücksichtigt werden.

Mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen

Die strittige Finanzierung des Gesundheitswesens ist bis zum Schluss Thema der Verhandlungen. Union und FDP wollen kurzfristig die Praxisgebühr und langfristig die gesamte Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Prüfstand stellen. Offenbar hat sich Schwarz-Gelb darauf verständigt, den Gesundheitsfonds abzuschaffen. Eine Expertenkommission solle 2010 verschiedene Lösungen prüfen, hieß es gestern aus Koalitionskreisen. Die privaten Krankenversicherungen werden gestärkt. Arbeitnehmer sollen in eine Privatkasse wechseln können, wenn sie nur noch ein Jahr lang mehr als 4162 Euro im Monat verdienen. Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte wird vorerst gestoppt. Union und FDP haben sich verständigt, die gesetzliche Pflegeversicherung durch eine verpflichtende Zusatzvorsorge zu ergänzen. Arbeitnehmer müssen mit höheren Beiträgen rechnen, wenn sie zusätzlich zum normalen Beitragssatz privat in Form einer Art "Pflege-Riester" Vorsorge treffen müssen.

Initiative für weltweite Abrüstung

Die Koalition will sich für eine weltweite Abrüstung starkmachen und sich dafür einsetzen, "dass die in Deutschland verbliebenen US-Atomwaffen abgezogen werden". Keine Überraschungen beim Thema Europa: Die Frage, ob die Türkei in die EU aufgenommen werden soll, will die Koalition nicht beantworten. Es gebe "keinen Automatismus". Die Türkei solle zumindest "möglichst eng an die europäischen Strukturen angebunden werden".

Mehr Entwicklungshilfe

Trotz der Finanzkrise will Schwarz-Gelb die schrittweise Erhöhung der Entwicklungsleistungen auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts einhalten. Gleichzeitig will sie eine einheitliche Zusammenarbeit innerhalb der EU unter einem Entwicklungskommissar erreichen.

Ausstieg aus dem Atomausstieg

Die Laufzeit sicherer Atomkraftwerke soll verlängert werden. Konkrete Jahreszahlen dazu wird es offenbar nicht im Koalitionsvertrag geben. Ein Großteil der Zusatzgewinne der Stromkonzerne soll dem Bund zufließen. Das niedersächsische Salzbergwerk Gorleben soll als mögliches Endlager für Atommüll weiter erkundet werden.