Es gibt nicht nur Zustimmung, sondern auch Widerstand gegen die Personalpolitik der Partei in Berlin.

Berlin. An wen soll man den Brief adressieren, wenn man in diesen Tagen seinen Frust über die jüngsten Vorgänge in der Sozialdemokratie loswerden will? Der Parteilinke Hermann Scheer entschied sich gestern für Franz Müntefering. Immerhin, wird sich Scheer gedacht haben, ist der Mann aus Neheim-Hüsten ja noch unser Parteivorsitzender. Zumindest de jure. Scheer schrieb also an Franz Müntefering, dass er absolut nicht damit einverstanden sei, wie "schon wieder" versucht werde, "vollendete Tatsachen zu schaffen, die der Parteivorstand und der Parteitag dann abnicken sollen". Er fügte aufgebracht hinzu: "Mit denselben Methoden, die die Partei über Jahre hinweg gelähmt haben und die Rolle und Funktion gewählter Führungsgremien sinnentleert haben, kann die Partei nicht zu neuer Motivation und Kraft finden." Die "in Medien lancierten Absprachen" dürften keine Vorfestlegung oder Verbindlichkeit beanspruchen!

Zu diesen Vorfestlegungen gehört es, dass die ehemalige Juso-Vorsitzende Andrea Nahles den Posten der Generalsekretärin übernehmen und der scheidende Bundesumweltminister Sigmar Gabriel neuer Parteivorsitzender werden soll.

Man muss kein großer Kenner der Berliner Szene sein, um zu begreifen, dass in der SPD gerade ein erbitterter Kampf um die Macht tobt. Gestern kam es in Berlin wieder zu einem kurzfristig angesetzten Treffen. Dabei waren Franz Müntefering, seine Stellvertreter Frank-Walter Steinmeier und Andrea Nahles, die Bundesminister Gabriel und Olaf Scholz, Berlins Regierungschef Klaus Wowereit und die nordrhein-westfälische SPD-Landesvorsitzende Hannelore Kraft. Einziges Thema: das Personaltableau, das am 9. Oktober in der SPD-Zentrale abgesegnet werden soll, damit der Parteitag Mitte November in Dresden darüber abstimmen kann.

Bis Dresden sind es noch sechs Wochen. Und sechs Wochen können in der Politik eine Ewigkeit bedeuten. Für Frank-Walter Steinmeier, der am Dienstag von einer zähneknirschenden Bundestagsfraktion gewählt wurde, aber den meisten nur als Vorsitzender auf Abruf gilt. Für Nahles, die neben Wowereit als Drahtzieherin der jüngsten Entwicklungen gilt. Aber auch für Sigmar Gabriel, von dem man zwar weiß, dass er sich zu vielem berufen fühlt, den sich aber tatsächlich kaum einer in den großen Schuhen Kurt Schumachers oder Willy Brandts vorstellen kann. Andererseits ist der Job des Parteivorsitzenden in den vergangenen Jahren arg heruntergekommen. Warum sollte es also nicht einer wie Gabriel versuchen? Sigmar Gabriel hat immerhin den Vorzug, jünger zu sein als der fast 70-jährige Müntefering. Er ist wendiger und witziger als der Pfälzer Kurt Beck, der aus Berliner Sicht arg provinziell gewirkt hatte, und deutlich belastbarer als Matthias Platzeck, der das Amt nach einer Rekordzeit von nur 146 Tagen zurückgab.

Andererseits hat Gabriel nicht eben den Ruf, integrativ zu wirken. Sicher, der 50-Jährige ist ein glänzender Redner und kann ganze Säle zum Kochen bringen, aber ein SPD-Parteivorsitzender muss mehr können. Vor allem muss er die auseinanderstrebenden Parteiflügel zusammenhalten und der angeschlagenen Volkspartei den Weg in eine bessere Zukunft weisen.

Für den schleswig-holsteinischen SPD-Landesvorsitzenden Ralf Stegner ist Gabriel einer, den die "Gegner" fürchten müssen. Tatsächlich war Gabriel in den zurückliegenden Wochen der einzige SPD-Politiker, dem es gelang, den Bundestagswahlkampf mit einem Thema dauerhaft zu befeuern: mit der Debatte um den Atomausstieg.

Dass sich der niedersächsische Landesverband gestern mit einem klaren Votum für Gabriel als neuen SPD-Vorsitzenden ausgesprochen hat, konnte man erwarten. Überraschender war es, dass auch Kurt Beck am Mittwoch als Unterstützer dieser Gabriel-Personalie auftrat. Wenn man sich dafür entschieden habe, Fraktions- und Parteiführung zu trennen, dann sei Sigmar Gabriel sicher "eine starke Figur", meinte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Kurt Beck muss es wissen. Er hat sich auf dem Schleuderstuhl, den Gabriel unbedingt besteigen will, immerhin ganze sieben Tage länger gehalten als Rudolf Scharping.