Brüssel hält Hamburger Verbraucherschützern falsche Angaben vor. Versteckte Preiserhöhungen gehen nicht auf neue EU-Verpackungsvorschriften zurück, sagt Günter Verheugen.

Hamburg/Brüssel. Seit April gilt die große Verpackungsfreiheit: Durfte die Milch früher nur in den Mengen 0,5 Liter, 0,75 Liter oder 1,0 Liter verkauft werden, so sind solche Begrenzungen inzwischen aufgehoben. Eine EU-Richtlinie ermöglicht den Herstellern, Verpackungsgrößen individuell festzulegen. Die Nahrungsmittelhersteller jubelten damals, die Verbraucherschützer warnten. Sie befürchteten Mogelpackungen - mit weniger Inhalt für gleiches Geld.

Besonders die Verbraucherzentrale Hamburg war alarmiert. "EU-Lizenz zum Mogeln", lautete ihre damalige Mitteilung, die auch gestern noch im Internet abrufbar war. Als Beispiel wurde in der Mitteilung auch die Milch genannt, aber die Hamburger Verbraucherschützer verwiesen in einer langen Liste auf weitere Produkte, bei denen bereits gemogelt werde - etwa bei Babywindeln, Obst und Gemüse. Doch diese Produkte waren gar nicht von der EU-Richtlinie betroffen.

Jetzt wirft der Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen, der Hamburger Verbraucherzentrale vor, die Bürger in die Irre zu führen. Die Abschaffung europäischer Vorschriften zu Verpackungsgrößen habe anders als von den Verbraucherschützern behauptet "nicht zu versteckten Preiserhöhungen in großem Stil geführt", sagte Verheugen dem Hamburger Abendblatt. "Denn die allermeisten Produkte, die von der Verbraucherzentrale angeführt werden, fielen überhaupt nicht in den Geltungsbereich der abgeschafften Vorschriften."

Verheugen betonte: "Europa darf nicht als Sündenbock herhalten für Schummeleien zulasten der Verbraucher, die nichts mit europäischen Vorschriften zu tun haben." Er forderte die Verbraucherzentrale in Hamburg auf, "ihre irreführende Kommunikationsarbeit umgehend einzustellen und die Verbraucher richtig aufzuklären". Die Behauptung der Verbraucherzentrale, die EU habe das Tor zum Abbau von Verbraucherschutzrechten geöffnet, sei "schlicht falsch", so Verheugen. Die gesetzliche Verpflichtung, das Preis-Leistungs-Verhältnis überall und immer genau zu kennzeichnen, gelte europaweit. Die zuständigen Verbraucherschützer müssten "die Einhaltung europäischen Rechts zuverlässig garantieren".

Nur zwölf der mehr als 50 Produkte, bei denen die Hamburger Verbraucherschützer von Mogelei sprechen, seien überhaupt vom Wegfall der europäischen Vorschriften betroffen, teilte die Brüsseler Kommission gestern mit. Die EU habe weder die Anzahl von Windeln geregelt noch die Verpackungsmengen für Paprika und Tomaten. Die Größe von Bierkästen oder der Fischanteil in Fischgerichten habe ebenfalls nicht europäischen Vorschriften unterlegen. Die Verbraucherzentrale erneuerte gestern ihre Kritik. "Wir bleiben dabei: Die EU-Richtlinie ist ein Türoffner für weitere Produktmogeleien", sagte die Leiterin der Ernährungsabteilung, Silke Schwartau, dem Abendblatt. Allerdings sagte sie zu, den Internetauftritt der Verbraucherzentrale nachzubessern und genau zu kennzeichnen, welche Änderungen bei Produktgrößen auf EU-Recht zurückgehen und welche nicht.

Industriekommissar Verheugen richtete darüber hinaus eine scharfe Warnung an die Wirtschaft. "Hersteller und Handel sollten sich hüten, ihre Kunden auszunehmen", sagte er. Außerdem rief er dazu auf, das Projekt der Entbürokratisierung in Deutschland "endlich offensiv" zu verteidigen. "Die Bundesregierung hat schließlich der Rücknahme der Verpackungsvorschriften auch zugestimmt. Das Parlament ebenso."