Der frühere CSU-Chef über seine Arbeit in Brüssel, die Grenzen Europas und den nächsten deutschen EU-Kommissar.

Hamburg. Abendblatt:

Herr Stoiber, Sie haben sich dem Bürokratieabbau in der EU verschrieben. Ein Kampf gegen Windmühlen?

Edmund Stoiber:

Überhaupt nicht. Meine Expertengruppe, die eng mit Industriekommissar Verheugen zusammenarbeitet, wird den wesentlichen Teil ihrer Arbeit in der kommenden Woche abschließen. Am Mittwoch können wir sagen: Wir haben alle 13 großen Felder der EU-Gesetzgebung durchforstet. Die letzten drei Rechtsgebiete, die wir uns vornehmen, sind Finanzdienstleistungen, Statistik und Fischereirecht.

Abendblatt:

Das Ergebnis?

Stoiber:

Wir werden Bürokratieerleichterungen vorschlagen, die für die 20 Millionen Unternehmen in Europa ungeheure Einsparungen bedeuten. Die Größenordnung liegt bei über 40 Milliarden Euro jährlich. Für Deutschland bedeutet das ein kostenloses Konjunkturprogramm von über 8 Milliarden Euro. Den Abschlussbericht mit der genauen Summe werde ich am 17. September an EU-Kommissionspräsident Barroso übergeben.

Abendblatt:

Werden Ihre Vorschläge auch umgesetzt?

Stoiber:

Da bin ich optimistisch. Wuchtige Vorschläge aus meiner Expertengruppe sind bereits von der Kommission übernommen werden.

Abendblatt:

Zum Beispiel?

Stoiber:

In der EU werden jedes Jahr 40 Milliarden Rechnungen hin- und hergeschickt. Bisher werden von den Finanzämtern nur Rechnungen auf Papier anerkannt. Ein Wahnsinn im Zeitalter der elektronischen Kommunikation! Die Kommission startet nun auf unsere Anregung hin die Initiative, Rechnungen auch elektronisch zuzulassen. Allein dadurch können die europäischen Unternehmen 18 Milliarden Euro sparen. Wichtig ist, dass der Bürokratieabbau auch nach Ende meines Mandats weitergeführt wird - in veränderter Form.

Abendblatt:

Woran denken Sie?

Stoiber:

Die Europäische Kommission braucht einen Normenkontrollrat mit einem starken Vorsitzenden. Dieses Gremium soll nicht nur bestehende, sondern auch geplante Gesetze überprüfen und die Bürokratiekosten ermitteln.

Abendblatt:

Wir ahnen, wer der starke Vorsitzende sein könnte ...

Stoiber:

Ich suche keinen neuen Posten.

Abendblatt:

Sie hatten sich als Ministerpräsident den Ruf eines Europaskeptikers erarbeitet. Jetzt wirken Sie selbst in Brüssel mit. Wer hat Sie bekehrt?

Stoiber:

Ich war nie ein Europaskeptiker. Ich habe immer wieder kritisiert, dass mir die Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene zu schnell geht. Da hat man mich in diese Ecke gedrängt. Ich weiß nicht, was das soll. Ich bin ja auch kein Deutschlandskeptiker, wenn ich ein Gesetz der Bundesregierung kritisiere.

Abendblatt:

Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Woche den Reformvertrag von Lissabon nur mit Auflagen gebilligt. Welche Bedeutung hat dieses Urteil?

Stoiber:

Eine sehr grundlegende. Die Richter haben ein für alle Mal klargestellt: Die Vereinigten Staaten von Europa wird es niemals geben. Die Europäische Union ist ein Verbund souveräner Staaten. Das Urteil wird eine Demokratisierung politischer Entscheidungen zur Folge haben - in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten.

Abendblatt:

Werden die Bürger das spüren?

Stoiber:

Der Bundestag ist zu mehr Demokratie verurteilt worden. Jetzt sind alle Fraktionen aufgerufen, optimale Beteiligungsrechte des Parlaments - und damit des Volkes - an europäischen Entscheidungen zu schaffen. Das Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag muss noch vor der Bundestagswahl neu verabschiedet werden.

Abendblatt:

Was verstehen Sie unter optimaler Beteiligung?

Stoiber:

Europapolitik ist Innenpolitik und als solche zu behandeln. Das Begleitgesetz muss dem deutschen Parlament weitgehende Befugnisse in der Europapolitik verleihen. Ich bin dafür, dass der Bundestag die Möglichkeit einer generellen Kompetenzrüge erhält. Er soll sagen können, ob die Europäische Kommission oder der Europäische Rat mit einer Entscheidung gegen nationale Zuständigkeiten verstößt. Stellt dann das Bundesverfassungsgericht eine Kompetenzverletzung fest, darf die europäische Regelung für Deutschland nicht gelten. Ein zweiter Aspekt ist mir wichtig.

Abendblatt:

Der wäre?

Stoiber:

Das neue Gesetz muss sicherstellen, dass der Bundestag viel stärker an der EU-Erweiterung beteiligt wird. Über Beitrittsverhandlungen darf nicht allein im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs entschieden werden. Die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel etwa mit der Türkei sollte erst nach Zustimmung des Bundestags möglich sein.

Abendblatt:

Die Europapolitiker in Berlin konzentrieren sich auf die Frage, wer nächster deutscher EU-Kommissar wird. Wen unterstützen Sie?

Stoiber:

Für mich ist zweierlei klar: Nach 20 Jahren ist die CDU wieder an der Reihe, den EU-Kommissar zu stellen. Und der deutsche Vertreter muss ein echtes Kaliber sein - mit hoher Kompetenz, enormer Erfahrung und großem Rückhalt in der eigenen Partei. In der Kommission werden weitreichende Entscheidungen getroffen. Daher müssen die Allerbesten nach Brüssel.

Abendblatt:

An wen denken Sie? An Friedrich Merz? An Roland Koch?

Stoiber:

Die Erfahrung eines Ministerpräsidenten wäre sicherlich hilfreich. Jedenfalls muss es einer der ganz Oberen sein.

Abendblatt:

Der aktuelle CSU-Obere, Horst Seehofer, feiert an diesem Sonnabend seinen 60. Geburtstag. Was schenken Sie ihm?

Stoiber:

Das verrate ich noch nicht. Ich treffe Horst Seehofer am Montag und werde ihm ein kleines persönliches Geschenk überreichen. Ich werde ihm auch dazu gratulieren, dass er der CSU nach einem schwierigen Jahr wieder Selbstbewusstsein gegeben hat.

Abendblatt:

Gefühlte Nummer eins der CSU ist inzwischen allerdings Wirtschaftsminister zu Guttenberg. Läuft er Seehofer den Rang ab?

Stoiber:

Karl-Theodor zu Guttenberg ist ein ganz wichtiger Eckpfeiler der CSU geworden. Ich bin zuversichtlich, dass die CSU wieder zu alter Stärke zurückfindet - mit einer Mischung aus jungen, dynamischen Leuten und einem erfahrenen Vorsitzenden. Es ist Seehofers Verdienst, dass der Generationssprung gelungen ist.

Abendblatt:

Wenige Wochen vor der Bundestagswahl liegt die Union in Umfragen ein gutes Stück unter der Zielmarke 40 plus x. Was muss auf der Zielgeraden passieren?

Stoiber:

Wir müssen die Kanzlerin klar in den Mittelpunkt stellen. Dann können wir unser Wahlziel erreichen.

Abendblatt:

Angela Merkel als Programm?

Stoiber:

Angela Merkel vertritt Deutschland nicht nur außenpolitisch hervorragend. Die Menschen vertrauen ihr, dass sie die Wirtschaftskrise am besten bewältigt. Das wird entscheidend zum Wahlsieg der Union beitragen.