Der SED-Staat hat seinen Bürgern 40 Jahre lang Unrecht angetan, auch wenn sich viele inzwischen nicht mehr daran erinnern wollen.

Hamburg. Schon vergessen, liebe ehemalige DDR-Bürger, wie sich das angefühlt hat, wenn wir wieder zu Hause waren? Wenn der D-Zug aus Prag mitten in der Nacht die Grenze in Schmilka erreicht hatte und der erste Uniformierte die Abteiltür aufriss und uns mit schneidender Stimme "Grenzkontrolle DDR" entgegenbrüllte? Haben Sie dieses Gefühl des Ausgeliefertseins wirklich schon vergessen, das selbst jene überkam, die keine verbotenen Westschallplatten und keinen "Spiegel" im Gepäck hatten und sich unter dem ewig misstrauischen Blick der "Staatsorgane" trotzdem wie hochgradig Verdächtige fühlen mussten? Oder die entwürdigenden Prozeduren, denen uns die Volkspolizei unterwarf, wenn wir die Einreise unserer westdeutschen Verwandten beantragen wollten, die abgelehnt werden konnte, ohne dass wir auch nur das Recht hatten, zu erfahren warum? Haben Sie vergessen, wie Eltern ihren Kinder einschärften, um Gottes willen in der Schule niemals zu erwähnen, dass man nicht die "Aktuelle Kamera", sondern die "Tagesschau" einschaltete? Haben Sie vergessen, wie sich die mit Chemie-, Braunkohlenheizungs- und Trabi-Abgasen geschwängerte Luft in Leipzig oder Bitterfeld atmete, die vor allem kleine Kinder reihenweise krankmachte? Erinnern Sie sich nicht mehr an die verfallenen Innenstädte und die gähnend leeren Regale in den Obst- und Gemüseläden?

Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen (57 Prozent) haben offenbar in einer anderen DDR gelebt als ich. Einer Emnid-Umfrage zufolge geben sie an, dass der SED-Staat mehr positive als negative Seiten gehabt habe und dass es sich dort gut leben ließ. Zwei Jahrzehnte reichen also schon aus, um die Erinnerung auf so merkwürdige Weise zu verklären. Das Gedächtnis arbeitet selektiv, Schlechtes wird nach und nach ausgeblendet und je weiter die erinnerte Zeit zurückliegt, desto milder ist das Licht, in dem sie vielen Menschen erscheint. Ein großer Teil der Ostalgie ist in Wahrheit eine persönlich gefärbte Nostalgie, schließlich erinnern sich die Menschen nicht nur an einen untergegangenen Staat, sondern zugleich auch an eine Lebensphase, in der sie sehr viel jünger waren.

Doch das allein erklärt nicht, warum zum Beispiel nur acht Prozent der befragten Ostdeutschen angaben, dass der SED-Staat "ganz überwiegend schlechte Seiten" gehabt habe. Die nachträgliche "Verschönerung" des zu seiner Zeit in Wahrheit ungeliebten SED-Staats ist wohl auch eine Folge der völlig unsinnigen Diskussion um dessen eigentlichen Charakter. Politiker wie Gesine Schwan (SPD) lehnen den Begriff Unrechtsstaat mit der Begründung ab, dass damit zwangsläufig "Wertungen für die Lebenswirklichkeit der Menschen" verbunden seien. Selbstverständlich war die DDR ein Unrechtsstaat, denn es gab weder Rechtsstaatlichkeit noch Gewaltenteilung, sondern die Willkür einer politischen Kaste. Aber das heißt doch keineswegs, dass alle Menschen, die in diesem Staat leben mussten, Anteil an diesem Unrecht hatten. Gesine Schwan meint den Unrechtscharakter der DDR relativieren zu müssen, um die Ostdeutschen vor einer pauschalen Mithaftung in Schutz zu nehmen. Doch genau das geht an der Lebenswirklichkeit der DDR vorbei, denn in Wahrheit hat der SED-Staat seinen Bürgern 40 Jahre lang Unrecht angetan - auch wenn sich viele inzwischen nicht mehr daran erinnern wollen.