Trauer um den deutsch-britischen Soziologen und Politiker, Vordenker der Liberalen in Europa und Intellektuellen. Präsident Köhler würdigt Dahrendorfs Verdienste um die deutsche Kultur. Stationen eines Lebens auf der “Überholspur“.

Hamburg. Er war eine herausragende gesellschaftspolitische Leitfigur, brillanter Sozialphilosoph, Liberaler im Wortsinn und Grenzgänger zwischen Politik und Wissenschaft. Ein globaler Vordenker, dessen Stimme in ganz Europa Gewicht hatte. Jetzt ist Lord Ralf Dahrendorf tot. Er starb am Mittwochabend in seiner Kölner Wohnung nach kurzer schwerer Krankheit. In seinen letzten Stunden war seine dritte Ehefrau, die Kölner Ärztin Christiane Dahrendorf, bei ihm.

Noch am 1. Mai hatte Dahrendorf seinen 80. Geburtstag in Oxford gefeiert. Er habe aber bereits nur noch mit Mühe sprechen können, berichtet der Philosoph Jürgen Habermas dem Online-Medium "Faz. Net" nach der Begegnung. Die Nachricht vom Tod des befreundeten Kontrahenten, den Habermas einst bewundernd als "Primus seiner Generation" charakterisierte, erreichte Habermas bei der Feier seines eigenen 80. Geburtstags.

Dahrendorf selbst hat sich selbst als "glücklichen Intellektuellen" und als "Weltbürger" gesehen. Guten Leuten schlechte Ideen auszutreiben hat ihn begeistert, während ihn "berechenbare Positionen zu überraschenden Gegenständen" nur mäßig interessierten.

Dahrendorf - das war ein glasklarer Verstand, gepaart mit einem provozierenden Temperament, das den Widerspruch liebte. Einige Beispiele? "Lebenschancen sind mehr als Konsummöglichkeiten" - "Wer die Freiheit einzuschränken beginnt, hat sie aufgegeben und verloren." Und: "In Deutschland stört mich die bleierne Hand der Bürokratie." Zum geflügelten Wort ist der Titel eines seiner Bücher geworden. "Bildung ist Bürgerrecht" (1965). Bildungsdefizite wertete er als Bedrohung für die bundesdeutsche Demokratie. Und in einem seiner letzten Interviews hat Dahrendorf gefordert, in der Finanzkrise den "Pumpkapitalismus" durch einen "verantwortlichen Kapitalismus" zu ersetzen.

Was er von der Gesellschaft immer wieder angemahnt hat, ist, Widersprüche auszutragen, statt sie einfach nur aufzuheben. Dahrendorf mochte Unruhegeister, weshalb er schon mit Rudi Dutschke gern stritt. Obwohl er ihn für einen Wirrkopf hielt. Der gemeinsame Auftritt auf dem Freiburger Messeplatz während eines FDP-Parteitags - auf einem Autodach! - gehört zur Geschichte der 68er-Bewegung.

Programmatisch war für den Soziologen der Titel seiner Lebenserinnerungen: "Über Grenzen". Ein Bekenntnis schon der erste Satz: "Manchmal kommt es mir vor, als ob jeder von uns ein bestimmtes Alter zeitlebens mit sich herumträgt." Seines, so verriet er später, sei immer 28. Weil man bis dahin nur von Tag zu Tag lebe und jeden Tag etwas anderes versuche.

Mit 28 hatte der in Hamburg geborene Sohn des SPD-Reichstagsabgeordneten und Widerstandskämpfers Gustav Dahrendorf bereits seinen ersten Doktorhut. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er an der Universität Hamburg Philosophie und klassische Philologie studiert. Für seine Dissertation "Der Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx" gab es summa cum laude. Atemberaubend die Geschwindigkeit seiner Karriere: Dahrendorf besuchte die renommierte London School of Economics, wo der bedeutende Philosoph Karl Popper sein Lehrer war. Ein Vorbild, ebenso wie der Analytiker Raymond Aron und der Gelehrte Isaiah Berlin.

An seinem 29. Geburtstag schließlich habilitierte Dahrendorf und wurde zum ordentlichen Professor für Soziologie in Hamburg und Tübingen, später zum Mitbegründer der Universität Koblenz. Stationen einer Hochschulkarriere, bei der es nicht bleiben sollte. Am Ende ist aus Dahrendorf alles geworden: Journalist, Ökonom und Politiker, Soziologe sowieso. Zunächst war er Mitglied der SPD, in den 60er-Jahren fand er den Weg in die FDP, für die er im Stuttgarter Landtag und später im Bundestag saß. Der damalige Außenminister Walter Scheel holte Dahrendorf 1969 als Staatsminister ins Auswärtige Amt. Aber der Vordenker der Liberalen war kein Mann für die zweite Reihe. So wechselte er in die Europäische Kommission nach Brüssel. Dort nahm er zeitweilig das Pseudonym "Wieland Europa" an und rechnete öffentlich mit den europäischen Institutionen und der Arbeitsweise der Eurokraten ab. Europa ohne Brüssel - diese Vision hat er geliebt.

Eine britische Sicht. Die Jahre als Wissenschaftler in London und Oxford haben Dahrendorf geprägt. Er wechselte von der Politik zurück in die Lehre und wirkte ab 1974 für zehn Jahre an der London School of Economics. Im Jahr 1988 nahm Dahrendorf, der von der britischen Königin geadelt wurde, neben der deutschen auch die britische Staatsbürgerschaft an. Und wurde außerdem wegen seiner Verdienste um das deutsch-britische Verhältnis Baron. "Baron des Clare Market" lautet sein Titel. Wenn die Legende stimmt, dann hat er sich den selbst ausgesucht. Benannt nach dem Parkplatz der London School of Economics. Seither war Dahrendorf Mitglied des englischen Oberhauses und strahlte im Auftreten jenes britische Understatement aus, das auch schon mal als getarnte Form der Eitelkeit daherkommt.

Ralf Dahrendorf erhielt unzählige Preise, mehr als 25 Ehrendoktortitel wurden ihm verliehen, in Hamburg ist er Ehrensenator der Universität. In seiner Biografie bezeichnete er sich als Glückskind auf der "Überholspur". Bundespräsident Horst Köhler würdigte gestern Dahrendorfs Verdienste um die deutsche Kultur. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte Dahrendorf einen der bedeutendsten Gesellschaftswissenschaftler Deutschlands. Sein Lebensweg stehe beispielhaft für die Verbindung von Wissenschaft und Politik. Die Beerdigung soll in London stattfinden.