Wähler strafen Große Koalition ab. Genossen von historischer Niederlage völlig überrascht. Union spricht trotz deutlicher Verluste von “wirklich schönem Ergebnis“ und einem Signal für die Bundestagswahl. Aber die Kanzlerin scheut nach der Abstimmung den öffentlichen Auftritt.

Hamburg

In den Parteizentralen auftreten, das wollen sie beide nicht an diesem Tag. Der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier lässt sich am Nachmittag bei der Stimmabgabe in einer Berliner Grundschule ablichten. Und zieht es nachher vor, sich im Fernsehen zu verbreiten statt vor der Basis im Willy-Brandt-Haus: Erst in der ARD-Wahlsendung, später dann in der Talkshow bei Anne Will, wo er schon wieder den Wahlkämpfer gibt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigt sich nur in ihrem Wahllokal in der Humboldt-Universität. Am Abend im Konrad-Adenauer-Haus lässt sie Generalsekretär Ronald Pofalla den Vortritt. Er darf, nein: er soll das Wahlergebnis kommentieren, von dem man in der CDU-Zentrale schon gewusst hat, dass es kein rauschendes sein würde.

Deshalb hat die Kanzlerin in der "Bild am Sonntag" die Erwartungen heruntergeschraubt, die angebliche Ausnahmesituation vor fünf Jahren beschworen, als die Union von der massiven Kritik am Chaos in der rot-grünen Bundesregierung profitiert habe. An einem Abend, an dem in den Unions-Grafiken schwarzenMinusbalken dominieren, will sie trotzdem nicht im TV auftreten. Schadensbegrenzung ist angesagt. Und dafür taugt das Resultat allemal.

"Auf diesem Ergebnis können wir gut aufbauen für die Bundestagswahl. Die Union ist mit weitem Abstand stärkste politische Kraft in ganz Deutschland", frohlockt Pofalla. Tatsächlich kann die Partei froh sein, dass das Desaster der Sozialdemokraten den Dämpfer für die eigene Partei in ein milderes Licht rückt. Und, noch wichtiger: dass die Hoffnung auf Schwarz-Gelb weiterleben kann.

Steinmeier hat ebenfalls gute Gründe, sich nicht unter die Genossen zu begeben: Mit ehrlich gemeinten Jubelstürmen kann er an diesem Abend im Willy-Brandt-Haus nicht rechnen. Alles, was sich die Partei vorgenommen hat, ist misslungen. Das ersehnte Aufbruchssignal, der Startschuss zur Aufholjagd auf die Union, kann nicht gegeben werden. So ist es ein fast schon gespenstisch langer Beifall, mit dem die Genossen kurz nach 18 Uhr ihren Parteivorsitzenden Franz Müntefering empfangen, der mit versteinerter Miene das Podium betritt.

An seiner Seite: Martin Schulz, der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion im EU-Parlament, der Spitzenkandidat der SPD, der jetzt traurig in die Menge nickt. Dieser Wahlausgang hat Deutschlands Sozialdemokraten kalt erwischt. Dass sie ihr desaströses Ergebnis von 2004 - auf dem Höhepunkt der Hartz-IV-Empörungswoge über Rot-Grün - sogar unterbieten würden, das wussten die Strategen in der SPD-Zentrale erst nach den ersten Prognosen der Institute am Nachmittag. Knapp eineinhalb Stunden hat man Zeit gehabt, um eine Sprachregelung zu vereinbaren, die den Fehlstart in die heiße Phase des Superwahljahrs nach außen erträglich erscheinen lassen soll.

Müntefering bricht den mechanisch klingenden Beifall mit einer Handbewegung ab. "Danke für den Mut, den ihr uns macht, und den wir sonst euch so oft machen müssen", sagt er. Reichlich verbittert klingen seine Worte, mit denen die Katastrophe nun kaschiert werden soll. Das "Mobilisierungsproblem" sei schuld, das man nicht habe auflösen können. Bei der Bundestagswahl werde die SPD anders dastehen, da werde die Wahlbeteiligung deutlich höher sein, sagt er. Und: "Wir haben jetzt noch 112 Tage."

Frank-Walter Steinmeier ist währenddessen auf den bereitgestellten Fernsehmonitoren zu erleben. "Offensichtlich ist es uns nicht gelungen, unsere Wähler, unsere Wählerschichten an die Urnen zu bringen", sagt auch er. An der Basis regt sich Kritik, dass sich Steinmeier auf Fernsehauftritte beschränkt. "Da schauen ihm eben mehr Leute zu als hier", meint der 75-jährige Peter Schmidt-Burr. Und spricht aus, was offenbar viele denken, aber nicht sagen wollen: dass der wirtschaftspolitische Kurs des Kandidaten beigetragen hat zu diesem desaströsen Ergebnis. Opel, Arcandor, diese ganze in den letzten Tagen so forcierte Debatte um Staatshilfen für angeschlagene Konzerne.

Fassungslos verfolgen die Genossen im Willy-Brandt-Haus die Hochrechnungen sowie die Auftritte von CSU-Chef Horst Seehofer und Unionsfraktionschef Volker Kauder. Die Konkurrenz schlachtet das SPD-Fiasko genüsslich aus. Inzwischen wird munter getrunken. Das hat man nach früheren SPD-Wahlschlappen anders erlebt. Auch die Basis beklagt jetzt wortreich das "Mobilisierungsproblem", das die SPD bei dieser Wahl gehabt habe.

Wie es wirklich um die Gefühlslage der Partei bestellt ist, lässt eine SMS erahnen, die eine Genossin in ihr Handy tippt: "Es ist alles ganz furchtbar. Bei Müntes Rede musste ich fast weinen." Vor ihr auf dem Tisch stapeln sich die zuvor ausgelegten Anstecknadeln mit "FW Steinmeier"-Emblem. Ans Revers heften wollen sie sich nur ein paar Jusos.

Schließlich verirrt sich doch ein Vertreter der Parteispitze ins Parterre der SPD-Baracke, Generalsekretär Hubertus Heil. Er sagt dem Abendblatt: "Es ist uns nicht gelungen, unsere Anhänger zu mobilisieren. Aber die Bundestagswahl verläuft nach anderen Gesetzen." Was Politiker eben so sagen, um das Gesicht zu wahren.

Ronald Pofalla macht im Konrad-Adenauer-Haus aus seinen Gefühlen keinen Hehl.

Man kann spüren, was den CDU-Generalsekretär in den zurückliegenden Wochen alles in Rage gebracht hat: die SPD im Allgemeinen und Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier im Besonderen; das Gefühl, vom Koalitionspartner dazu getrieben worden zu sein, die Milliarden nur so aus dem Fenster zu feuern; und dazu die Sorge, dass es im Bund trotzdem beziehungsweise gerade deswegen nicht reichen könnte.

Mit rotem Kopf steht der ansonsten so kontrollierte Pofalla nun da, bejubelt den eigenen Vorsprung vor den Sozialdemokraten ("17 Punkte!"). Der Herr Steinmeier, sagt er erregt, sei "erneut gescheitert". In der Union hält man sich nicht lange damit auf, dass man bei der Europawahl 2004 noch 44,5 Prozent erzielt hat. Geschweige denn damit, dass es 1999 sogar 48,7 Prozent gewesen sind. Dass es bei Lichte besehen also weiter bergab gegangen ist. Kein Gedanke, jedenfalls nicht, solange die Kameras noch in Betrieb sind. Volker Kauder spricht lieber davon, dass "der Versuch, mit Steuergeldern Wahlen zu gewinnen", misslungen sei.

Das geht natürlich an die Adresse der SPD, und tatsächlich lässt sich der Abend in der CDU-Zentrale mit dem Begriff Erleichterung zusammenfassen. Erleichterung darüber, endlich wieder Nein sagen zu können. Und tatsächlich scheint die CDU fest entschlossen, der SPD in Sachen Karstadt/Arcandor ihre Grenzen aufzuzeigen. Statt des Staates seien jetzt die Eigentümer gefordert, erklärt Ronald Pofalla, und Volker Kauder meint lässig, Arcandor müsse sich jetzt halt mit den Metro-Leuten "zusammenraufen". Der Wähler wisse ja offenkundig, wo die Wirtschaftskompetenz in der Großen Koalition liege.

In der CDU-Zentrale ist man überzeugt, dass sich mit diesem Glaubwürdigkeitsvorsprung die Bundestagswahl gewinnen lässt. In der SPD ist man von gar nichts mehr überzeugt. Höchstens davon, dass sich mit gutem Wein schlechte Nachrichten besser ertragen lassen.