Ein Brief an Gott braucht keine Briefmarke. Gott mag allgegenwärtig sein, aber vor allem ist er in Jerusalem.

Das glauben zumindest viele Postangestellte, ob in Deutschland, Brasilien oder Indien. Deshalb kommen jedes Jahr Tausende Briefe in Jerusalem an, die nur "An Gott" adressiert sind. Eingerissen und zerknittert sind sie oft, viele wanderten monatelang von Brieffach zu Brieffach rund um die Welt.

Juden, Christen, Muslime - drei Weltreligionen betrachten Jerusalem als ihr Heiligtum. Da aber die Post dort nun mal israelisch ist und ihre Mitarbeiter damit mehrheitlich jüdisch sind, landen die Briefe meist an der Westlichen Tempelmauer. "Klagemauer" wird der Rest des Zweiten Tempels auch genannt, der vor fast 2000 Jahren von den Römern zerstört wurde.

Man geht erst die Via dolorosa entlang, dann durchs muslimische Viertel, ehe eine Sicherheitsschleuse den Weg freigibt. Dann steht sie da: 18 Meter hoch, 48 Meter lang, ein schlichtes Mauerwerk aus hellen Steinen. Hier murmeln Juden ihre Gebete - und stecken kleine Briefchen in die Mauerritzen. Vergleichsweise jung ist dieser Brauch. Vor etwa dreihundert Jahren begannen Juden, die persönlich nicht zur Mauer reisen können, ihre Gebete möglichst nah an Gott transportieren zu lassen. Mittlerweile kommen sie auch per Fax oder E-Mail. Jede Woche bringt ein Rabbiner die Zettel zur Mauer und drückt sie in die Fugen zwischen den Steinen. Weil irgendwann der Platz ausgeht, kratzen Helfer aus der Gemeinde die Zettel zweimal im Jahr wieder heraus und vergraben sie auf dem nahen Ölberg. Sie beteuern, nie zu lesen, was auf den Zetteln steht.

Denn der Inhalt sei nur für Gott bestimmt. Als der heutige US-Präsident Barack Obama im vergangenen Jahr dort einen Brief hinterließ, veröffentlichte ein israelischer Reporter den Inhalt. Vielleicht hatte Obama das geahnt und deshalb so bescheiden geschrieben: "Bitte schütze mich vor Hochmut und Verzweiflung."

Wer trotzdem wissen will, mit welchen Bitten sich Menschen an Gott wenden, muss Batya Burd fragen. Die 34-jährige strenggläubige Jüdin betreibt den Internet-Service westernwallprayers.org . Mehr als tausend Menschen "aller Religionen aus aller Welt" schicken ihre sehnlichsten Wünsche. Gegen eine Spende kann zusätzlich zum Zettelchen in der Mauer ein Rabbi oder Thora-Schüler 40 Tage lang stellvertretend beten. Der Service kostet zwei Dollar, wenn sich aber ein Rabbi exklusiv kümmert, können es mehrere Tausend Dollar sein. Auf Platz eins der Wunschliste steht der Ehepartner, dicht gefolgt von Heilung bei Krankheiten. Seit der Finanzkrise beten mehr Menschen für einen Job als für den einst so beliebten Kinderwunsch, sagt Batya Burd. Auch sie betete einmal an der Mauer, dass sie endlich einen Ehemann finden würde. "Eine Woche später habe ich geheiratet", sagt sie. Auch für ein bezahlbares Appartement in der begehrten Jerusalemer Altstadt hat sie schon mal 40 Tage gebetet. Fürbitten nach einem Lotteriegewinn, so etwas sei jedoch tabu.

Und wenn ein Wunsch trotz Gebets-Marathons nicht in Erfüllung geht? "Dann muss man eben noch einmal 40 Tage beten", sagt Batya Burd ohne zu lächeln. Man dürfe eben nicht erwarten, dass Gott augenblicklich alle Wünsche erfüllt. Aber nach 40 Tagen Gebet werde sich das Leben eines Gläubigen verändern. "Auch wenn man es erst viel später merkt."