Der Ex-“Spiegel“-Chefredakteur über Frühzeit der RAF, deren Führungstrio und den mit Spannung erwarteten neuen Film.

Hamburg. Am Anfang waren sie für manch junge Menschen Vorbilder, diese engagierten Gleichaltrigen, die gegen den Krieg in Vietnam waren und Elend und Ungerechtigkeiten in der Welt bekämpfen wollten. Sie sahen aus wie Popstars, langhaarig und sonnenbebrillt, schlagfertig waren sie auch, und ihre Aktionen erinnerten irgendwie an Bonnie and Clyde. Am Ende waren sie nichts weiter als hinterhältige Mörder, selbstgerechte, moralisierende Gewalttäter mit Tunnelblick und dem Hang, sich als Märtyrer zu stilisieren: Die Rote Armee Fraktion, personalisiert vor allem durch Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, hielt zehn Jahre, von 1967 bis 1977, die Bundesrepublik in Atem. Niemals zuvor oder danach hat eine einzelne Gruppe derart heftig einen Staat und dessen Repräsentanten bekämpft. Wie Träume zu Terror werden, Macht zu Machtmissbrauch und Protest zu Paranoia führt, auch das zeigt die Geschichte der RAF. Am 25. September kommt der Film "Der Baader-Meinhof-Komplex" in die Kinos. Die Vorlage dazu lieferte der Journalist und frühere "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust, der sich seit den 60er-Jahren mit dem Thema beschäftigt und dessen gleichnamiges Buch gerade in der dritten, erweiterten Ausgabe erscheint (Verlag Hoffmann und Campe, 895 Seiten mit Abb., 26 Euro). Wir sprachen mit Stefan Aust über die RAF und ihre Entstehungsgeschichte.


Hamburger Abendblatt:

Was ist dran am Mythos RAF?

Stefan Aust:

Mit dem Wort Mythos kann ich wenig anfangen. Mythos bedeutet etwas Überhöhtes, Geheimnisvolles. Die RAF ist überhaupt nicht geheimnisvoll, das meiste ist bekannt und klar.



Abendblatt:

Für viele der heute Jüngeren sind die RAF-Mitglieder schlicht Mörder. Damals galten sie als cool, waren auch Ikonen. Haben sie sich als Popstars inszeniert, die große RAF-Show abgezogen?

Aust:

Sie waren Kinder ihrer Zeit, haben sich so gekleidet und verhalten. Sie sind bloß viele Schritte weiter gegangen als andere. Sicher haben sie versucht, sich zu stilisieren, auch bevor sie in den Untergrund gingen und dort das begingen, was sie für revolutionäre Taten hielten, also Bomben bauen, Logistik für eine Untergrundgruppe aufbauen und im Endeffekt Menschen ermorden.



Abendblatt:

Was war so sexy an der RAF?

Aust:

Ich fand die überhaupt nicht sexy. Gewisse Leute, die von derselben Spielwiese kamen, empfanden vielleicht Sympathie. Die haben sie ein bisschen dafür bewundert, dass die RAF sich das getraut hat, was andere nur theoretisch gefordert haben. Viele hatten eine schwärmerische und spielerische Idee von der Revolution, haben sich gar keine Gedanken darüber gemacht, was daraus wird, wenn sich Leute tatsächlich bewaffnen und Bomben werfen. Die erste revolutionäre Gruppe, die sich gegründet hatte, nannte sich "Viva Maria Gruppe", nach dem komödiantischen Revolutions-Film von Louis Malle. Daran sieht man ja, dass das anfangs noch eine Art schickes Spiel war. Als dann die RAF in den Untergrund ging, war es mit dieser Faszination sehr schnell vorbei. Denn das Erste, was die gemacht haben, war, Wohnungen und Papiere zu besorgen, Leute unter Druck zu setzen, Banken zu überfallen. Diese Aufbauphase im Untergrund ist trübe, anstrengend, langweilig und nervenaufreibend. Mit revolutionärem Glamour hat das nichts zu tun. Die mussten sich verkleiden und sahen plötzlich so aus wie die Leute, die sie verachteten. Das fanden manche von ihnen gar nicht mehr so lustig.



Abendblatt:

Begann der Terror dieser Gruppe vielleicht auch durch eine Art Wettbewerb - wer traut sich am meisten?

Aust:

Bestimmt. Das war eine Eskalationsstrategie. Die Demonstrationskultur hat sich ja stufenweise entwickelt. Am Anfang hat man demonstriert, dann Eier geworfen, später Brandbomben. Am Ende stand der Terror.



Abendblatt:

Hat die RAF nicht genau jene menschenverachtende Haltung eingenommen, die sie dem Staat vorwarf?

Aust:

Sicher. Den Opfern gegenüber, aber auch sich selbst.



Abendblatt:

Wenn man sich heute deren kalte, hasserfüllte Tiraden anhört, fragt man sich, wer auf diesen Schlagwortunsinn gehört hat. Aber die Hauptfiguren der RAF müssen doch eine Art Charisma gehabt haben?

Aust:

Ich glaube, dass Andreas Baader, den ich selbst nie kennengelernt habe, keine so besonders große Ausstrahlung gehabt hat. Das war ein Rabauke, erkennbar narzisstisch, eitel, häufig auf der Suche nach Streit und im Auftreten etwas bisexuell. Er hatte sicher eine kriminelle Intelligenz. Er konnte Leute zur Schnecke machen, sich im Zweifel auch mal prügeln. Er hat sich mit einem Flair umgeben, wie es Marlon Brando in dem Film "The Wild One" hat. Ulrike Meinhof kannte ich ganz gut. Wir haben ja jahrelang bei der Zeitschrift "konkret" zusammen gearbeitet. Sie hatte ein gewisses Charisma, konnte gut argumentieren und auftreten. Sie war in Diskussionen gut und hatte dadurch Überzeugungskraft. Auch wenn uns, wenn wir es heute hören, vieles davon nicht mehr so überzeugend erscheint. Und Gudrun Ensslin hatte in ihrer Pfarrerstochter-Unerbittlichkeit sicher eine gewisse Ausstrahlung. Man darf aber nicht vergessen, das war nicht nur eine Gruppe von Einzelpersonen. Sie kamen aus der zerbröselnden linken Studentenbewegung. Das, was sie versuchten in die Tat umzusetzen, ist das, was viele, die vorher über Gewalt schwadroniert hatten, forderten. Die Ideologie, die später zu diesen schrecklichen Taten geführt hat, war in der Studentenszene und der Außerparlamentarischen Opposition breitflächig vorhanden.



Abendblatt:

Die sprechen beseelt von der Solidarität mit dem vietnamesischen Volk, dreschen Phrasen vom Imperialismus und Völkermord. Heute, wo Völkermord, etwa in Afrika, im Fernsehen dokumentiert wird, gibt es keine derartige Solidaritätsbewegung. Was war das Besondere damals, das heute nicht mehr vorhanden ist?

Aust:

Damals hatte man noch die Illusion von Lösungen. Der Zweite Weltkrieg war erst 25 Jahre vorbei. Die Protestbewegung gab es weltweit. Es war die Zeit der Entkolonialisierung, überall auf der Welt gab es Befreiungsbewegungen. Aus der Sicht der jungen Leute bei uns waren diese Befreiungsbewegungen noch jungfräulich. Man wusste nicht, dass solche Bewegungen zum Teil auch in grässlichen Diktaturen enden. Man glaubte daran, dass Befreiung, Sozialismus und Demokratisierung funktionieren würden. Dadurch gab es eine starke Solidarität mit diesen revolutionären Organisationen, eine gewisse Revolutionsromantik. Wenn man sich mit diesen Bewegungen identifiziert, ist es nur ein kleiner Schritt, den Krieg zu Hause fortzusetzen. Und dann fängt man an, sich die Wirklichkeit zurechtzubiegen.



Abendblatt:

Die RAF hatte eine wahnsinnig rigide Moral. Es gab nur Menschen oder Schweine. Sie haben alles und jeden verurteilt, sich auch selbst zerfleischt. Woher kommt dieser Hass, diese Brutalität? Waren die überzeugt davon, das Richtige zu tun, oder haben sie es sich wie ein Mantra aufgesagt?

Aust:

Viele glaubten, die alleinige Wahrheit zu besitzen, Ulrike Meinhof etwa hatte ein starkes, fast religiös anmutendes Sendungsbewusstsein. Daher war sie eigentlich eine traditionelle, linientreue Kommunistin, hasste die Gesellschaft, der sie angehörte, und identifizierte sich mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten. Sie glaubte alles, was sie sagte. Wer an der Sache zweifelte, war für sie "unpolitisch", und das war der schlimmste Vorwurf, den es gab.



Abendblatt:

Und sie hat sich für Klaus Rainer Röhl interessiert, einen linken Lebemann?

Aust:

Ja, der war ein Hallodri, war eitel, exzentrisch. Hatte aber auch was drauf. Das hat ihr wohl gefallen. Wenn alle gegen ihn waren, sagte sie immer stolz: "Nur Qualität kann Qualität erkennen."



Abendblatt:

Sie haben damals die Kinder von Ulrike Meinhof befreit, die von ihrer Mutter in ein jordanisches Kinder-Guerilla-Camp gebracht werden sollten. Wie kam es dazu?

Aust:

Ach, das ist nun so lange her. Ich hatte durch Peter Homann, der mit Ulrike Meinhof zusammengewohnt hatte, herausbekommen, dass die Kinder bei Hippies in Italien versteckt worden waren. Wir haben Kontakt zu einem Mädchen aufgenommen, das wusste, wo die Kinder waren, und das auch das Passwort kannte, mit dem die Kinder ausgelöst werden sollten, um nach Jordanien in ein Camp für Kinder-Guerillas gebracht zu werden. Da hab ich gedacht, die hole ich jetzt mal. Ich fand das spannend. Dann bin ich nach Italien, hab die Kinder abgeholt, hab natürlich nicht gesagt, dass ich das jetzt nicht im Auftrag der Mutter mache. Und dann bin ich von Palermo aus mit den Kindern nach Rom gefahren. Da ihr Vater Klaus Rainer Röhl zufällig Urlaub in Italien machte, hab ich sie ihm übergeben.



Abendblatt:

Gudrun Ensslin gilt als besonders kalt und brutal, auch sie hatte ein Sendungsbewusstsein.

Aust:

In dem pietistisch-evangelischen Haushalt, aus dem sie kam, wurde die ganze Welt in gut und böse eingeteilt. Alles fand unter einem überlebensgroßen Kruzifix statt, das im Treppenhaus hing. Ich habe eine sehr interessante Akte gefunden. Da sagt der Vater, evangelischer Pfarrer: "Die Brandlegung von Gudrun verurteilen wir ... damit wollte sie wohl den Standort linksgerichteter Studenten in dieser Gesellschaft aufzeigen. Sie wollte wohl sagen, seht, dahin habt ihr uns gebracht." Er sieht in der Brandstiftung eine heilige Selbstverwirklichung seiner Tochter, bewundert sie geradezu. Dabei war das schlicht menschengefährdende Brandstiftung. Die Eltern hatten ihrer Tochter gepredigt, sie müsse etwas tun, um die Welt zum Positiven zu verändern. Sie haben offenbar ausgeklammert, dass sie diese Selbstverwirklichung durch Gewalt vorgenommen hat.



Abendblatt:

Diese Motivation nennen heute Selbstmordattentäter.

Aust:

Ja. Selbstmord spielt eine große Rolle bei politisch Militanten. Deswegen glaube ich, dass wir aus der Geschichte der RAF sehr viel lernen können. Das ist nicht nur die Geschichte von ein paar Durchgeknallten. Das ist die Geschichte der Irrwege von Teilen einer ganzen Generation. Wir können uns das, was im islamistischen Umfeld passiert, überhaupt nicht erklären. Dabei gab es ganz ähnliche Erscheinungen bei uns vor 30 Jahren. Inklusive der Haltung, Märtyrer zu werden. Die schrien damals auch nach Ewigkeit. Selbstmord war ein letzter Akt der Rebellion.



Abendblatt:

Warum sollten sich junge Menschen den Film ansehen, für die ist das doch alles Geschichte?

Aust:

Die Geschichte der RAF ist auch eine Parabel. Da geht es um Terrorismus, Gewalt, Moral, darum, was aus Wunschträumen und Allmachtsfantasien wird. Von solchen Stoffen gibt es nicht allzu viele in der Realität. Der durchschnittliche Kinobesucher ist so alt wie die Leute im Film. Da geht es um eine völlig aus dem Fahrwasser geratene Jugendbewegung. Das ist doch spannend.



Abendblatt:

Mag man die Figuren im Film?

Aust:

Man geht durch ein Wechselbad der Gefühle. Man ist empört, empathisch, mitgerissen, entsetzt. Großes Kino eben.



Abendblatt:

Wie hat sich Ihre Haltung zur RAF in Ihrer 30-jährigen Auseinandersetzung mit dem Thema geändert?

Aust:

Eigentlich gar nicht. Natürlich kommt immer noch Wissen dazu. Aber ich war von Anfang an der Auffassung, dass das ein Höllentrip war, den die da unternommen haben, der nur im Gefängnis oder im Grab enden konnte. In manchen Fällen beides. Ich bin nicht unbedingt fasziniert von dem Thema, aber ich bin fasziniert davon, wie sich in dieser Gruppe, in einem Mikrokosmos, alle Probleme der Welt spiegeln. Das ist wie ein griechisches Drama der Jetztzeit.



Abendblatt:

Sind Sie zufrieden mit dem Film?

Aust:

Nicht nur zufrieden. Ich finde ihn ausgezeichnet. Das hätte man sich als Autor nicht besser wünschen können.