Ein britischer Journalist behauptet, auf einer Party von Nazi-Größen seien 1945 “zur Unterhaltung“ 200 Juden erschossen worden. Ins Zwielicht geriet eine attraktive Frau: die Thyssen-Tochter Margit Batthyani.

März 1945. Die Rote Armee rückt täglich näher auf Wien vor. Hundert Kilometer südlich wird fieberhaft am sogenannten Ostwall gearbeitet, der die russischen Panzer an der österreich-ungarischen Grenze aufhalten soll. Immer neue Zwangsarbeiter werden herangebracht, sie müssen Schanzen ausheben.

Am 24. hält außerplanmäßig ein Zug im Bahnhof von Rechnitz. In den Waggons: 200 ausgemergelte ungarische Juden, die die NSDAP-Kreisleitung in Burg als "arbeitsunfähig" aussortiert hat. Es ist 18 Uhr. SA-Wachmannschaften herrschen die Männer und Frauen an, sich mit dem Aussteigen zu beeilen, aber die meisten sind so geschwächt, dass sie ohne Hilfe gar nicht aus den Waggons klettern können. Drei sinken tot auf dem Bahnsteig zusammen.

Zwei Stunden später wird auf dem Schweizermeierhof, der zu Schloss Rechnitz gehört, ein L-förmiger Graben ausgehoben. Auf dem Schloss selbst beginnt gerade ein "Kameradschaftsfest". Gastgeberin ist Margareta "Margit" von Batthyany, Tochter von Heinrich Thyssen-Bornemisza und Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen. 33 Jahre alt, schön und versessen auf Vollblüter. Diese Leidenschaft verbindet sie mit ihrem Mann Ivan, einem verarmten Grafen Batthyany aus dem österreichisch-ungarischen Hochadel. Dass die Gräfin ihr Bett inzwischen lieber mit Gutsverwalter Hans Joachim Oldenburg teilt, pfeifen die Spatzen in Rechnitz von den Dächern. Diesen Oldenburg hat die Thyssen-Gas nach Rechnitz geschickt, er soll Margit bei der Verwaltung der ausgedehnten Ländereien helfen. Die hat Heinrich Thyssen den Batthyanys abgekauft und seiner Tochter überschrieben; im Schloss ist seit Jahren seine Kunstsammlung untergebracht.

NSDAP-Mitglied Oldenburg ist natürlich auch auf der Party. Überhaupt ist man unter sich: Gestapo, SA, SS. Um 21 Uhr schickt Gestapo-Chef Franz Podezin einen Mann mit der Nachricht zum Bahnhof, die Gefangenen sollten kein Abendessen erhalten. Sie würden demnächst abgeholt.

Im Schloss wird zügellos getrunken und getanzt. Weil kaum Frauen anwesend sind, holt man die Mädchen aus der Küche dazu. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht wird Podezin ans Telefon gerufen. Kurz darauf gibt er Befehl, die Gefangenen mit Lastwagen vom Bahnhof zur großen Scheune des Schweizermeierhofs zu bringen, die die Einheimischen Kreuzstadl nennen. Dann fordert Podezin fünfzehn Festgäste auf, ihm in einen Nebenraum zu folgen. Dort eröffnet er ihnen, dass sie an der Liquidierung der arbeitsunfähigen Juden mitzuwirken hätten. Bewaffnet macht sich das Erschießungskommando auf zum Kreuzstadl.

Was dann folgte, weiß man aus den Gerichtsakten: Die entkräfteten Opfer wurden gezwungen, sich auszuziehen und an den Rand des L-förmigen Grabens zu knien, der Stunden zuvor ausgehoben worden war. "In Gruppen von 50" wurden sie durch Genickschüsse getötet. 18 Zwangsarbeiter blieben in dieser Nacht verschont, sie mussten das Massengrab am nächsten Tag schließen und wurden am Abend des 25. März in der Nähe des städtischen Schlachthauses ermordet.

Über das Massaker von Rechnitz haben Margareta Heinrich und Eduard Erne Anfang der Neunzigerjahre einen verstörenden Dokumentarfilm gedreht, den sie "Totschweigen" nannten. Außerdem gibt es einige wissenschaftliche Arbeiten über das Verbrechen. Dennoch hat Rechnitz jetzt noch einmal Aufsehen erregt: Die "FAZ" druckte einen Artikel des britischen Journalisten David Litchfield nach, der zuvor im Londoner "Independent" erschienen war. Überschrift: "Die Gastgeberin der Hölle".

Im Vorspann zu Litchfields Story schrieb die "FAZ", auf dem Fest der Thyssen-Tochter seien zweihundert Juden umgebracht worden, "um den Gästen eine zusätzliche Unterhaltung zu bieten". Allerdings hatte die Redaktion eine kleine Änderung vorgenommen. Während es im "Independent" noch geheißen hatte, auch Margit von Batthyany habe eine Waffe genommen, las sich die Passage in der "FAZ" so: "Franz Podezin . . . versammelte fünfzehn ältere Gäste in einem Nebenraum des Schlosses, gab Waffen und Munition an sie aus und lud die Herren ein, ,ein paar Juden zu erschießen'."

Litchfields Artikel basierte auf seinem Buch "The Thyssen Art Macabre", das 2006 in Großbritannien erschienen war. Die "FAZ" begründete den Nachdruck mit der Erklärung, keine Darstellung der Familie Thyssen erwähne die Ereignisse in Rechnitz oder beschreibe ihre Verwicklung in die Geschichte des Dritten Reiches in vollem Umfang. Das stimmt. Mit ihrem fehlenden Verantwortungsbewusstsein stehen die Thyssens auch nicht alleine da .

Das entschuldigt Litchfields Geschichtsklitterung allerdings nicht. Mit Eduard Erne, der der Rekonstruktion des Rechnitz-Verbrechens vier Jahre seines Lebens gewidmet hat, sprach die "FAZ" erst, nachdem Litchfields Version schon begierig aufgegriffen und verbreitet worden war ("Süddeutsche Zeitung": "Die Gräfin Thyssen gehört dem Boulevard"). Erne bestätigte, es habe in Rechnitz Gerüchte gegeben, wonach Margit von Batthyany "selber geschossen" hätte.

Er widersprach aber entschieden der Behauptung, zu dem Massaker sei es "aus einer Partylaune heraus" gekommen. Auslöser sei eindeutig der Befehl gewesen, den Podezin in jener Nacht entgegengenommen habe und der bezeugt sei. Ob die für den Ostwall zuständige Gauleitung im Schloss angerufen habe oder die Bauabschnittsleitung in Oberwart, das wisse man nicht. Erne sagt auch, die Batthyanys hätten Franz Podezin 1945 zur Flucht verholfen. Das wertet er als Beleg dafür, dass die Familie kein Interesse daran gehabt hat, die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen.

Die Rechnitzer, die die Schüsse und Todesschreie damals gehört haben, schweigen. Einer von ihnen sagte in die Kamera der beiden Dokumentarfilmer: "Die Juden haben ihre Klagemauer, wir haben eine Schweigemauer."

Nach einem Prozess, der 1948 stattfand, wurden Josef Muralter, Unterabschnittsleiter beim Ostwall-Bau, und Ludwig Groll, der Oberbürgermeister von Oberwart, zu Haftstrafen von fünf beziehungsweise acht Jahren verurteilt. Beide hatten nachweislich geschossen. Aber sie waren schnell wieder zu Hause. ÖVP und SPÖ, die großen österreichischen Volksparteien, setzten sich gleichermaßen für ihre Begnadigung ein.

Podezin wurde nie gefasst. Als im Februar 1963 endlich ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden sollte - man hatte ihn in Kiel geortet -, forderte der zuständige Staatsanwalt die Ermittler dringend zu besonderer Vorsicht auf, da "zu befürchten ist, dass Podezin durch Oldenburg und durch die Gräfin Batthyany gewarnt werden könnte".

Vergebens: Podezin setzte sich über die Schweiz nach Südafrika ab. Aus Basel schickte er Margit Batthyany noch einen Erpresserbrief: Er sei auf der Flucht und werde dafür sorgen, dass man sie und Oldenburg "durch den Schmutz" ziehe, wenn sie ihm kein Geld schicke.

Das ist nicht passiert. Margit von Batthyany lebte von 1945 bis zu ihrem Tod im September 1989 unbehelligt in Lugano und widmete sich der Zucht von Rennpferden. Sie besaß Gestüte in Deutschland (Erlenhof), Frankreich und den USA. Ihr Bruder Hans Heinrich, genannt "Heini", baute die Kunstsammlung seines Vaters aus und verkaufte sie 1993 an den spanischen Staat. Sie befindet sich heute im Museo Thyssen-Bornemisza, einem der berühmtesten Museen in Madrid.