Stalin-Terror. Der deutsche Politiker hat 1937 offenbar doch kommunistische Genossen dem Geheimdienst NKWD ans Messer geliefert. Belege dafür fand jetzt ein Hamburger Historiker in Moskauer Archiven.

Hamburg. Vermutungen und Gerüchte hatte es immer wieder gegeben. Noch zu seinen Lebzeiten musste sich Herbert Wehner (1906-1990), eine der Leitfiguren der deutschen Sozialdemokratie nach dem Krieg, immer wieder den Vorwurf dunkler Schatten in seiner Biografie gefallen lassen. Nicht nur weil Wehner jahrzehntelang Kommunist war, er trug auch das Kainsmal des möglichen Verrats. Klebte Blut an seinen Händen aus der Zeit zwischen 1937 und 1941 in Moskau, wo er unter dem Parteinamen Kurt Funk im berüchtigten Hotel Lux lebte und Genossen denunziert haben soll, die dann in den Stalinschen Gulags verschwanden? Nicht wenige seiner Gegner bejahten diese Frage. Für sie ist Wehner ein willfähriger Helfer der stalinistischen Mordmaschine gewesen. Spielte der Kärrner der SPD eine Rolle als Wolf im Schafspelz, der ein vereinigtes sozialistisches Deutschland anstrebte? Manche seiner Kritiker sahen in ihm bis zuletzt einen "Agenten Moskaus". Stoff für jahrzehntelange laute und böse Parlamentsdebatten. Wehner trieben diese Vorwürfe und Anspielungen regelmäßig zur Weißglut. Weil er tatsächlich Schuld auf sich geladen hatte? Weil er es nicht verwand, als der "ewige" Kommunist gesehen zu werden? Mit gerade zu hassverzerrtem Gesicht schleuderte er im Bundestag einmal seinen Kritikern einen Satz entgegen, der viel über die Zerrissenheit dieses Mannes aussagt: "Dass ich Kommunist gewesen bin, habe ich nie geleugnet, ich werde es mein Leben lang büßen dank derer, die patentierte Christen sind." Und schon 1948 sagte er zum damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schuhmacher, der Wehner zur Bundestagskandidatur drängen wollte: "Die werden mir doch die Haut vom lebendigen Leibe abziehen." Neue Erkenntnisse, die der Historiker Reinhard Müller (58) vom "Hamburger Institut für Sozialforschung" in russischen Archiven gewonnen hat, beweisen nun, dass es mehr als Verdächtigungen sind, die zu Wehners zwiespältigem Ruf beigetragen haben. Niemals, so hatte Wehner stets behauptet, seien durch ihn Parteifreunde zu Schaden gekommen. Diese Behauptung scheint nun nicht länger haltbar. Ins Wanken geraten war diese Verteidigungslinie schon lange. Bereits 1993 hatte der Hamburger Historiker mit seinem Buch "Die Akte Wehner" auf Ungenauigkeiten in der Biografie Wehners hingewiesen, wie sie in dessen "Notizen" von 1946 auftauchen, die der Politiker erst 1982 veröffentlichte. Sie seien in "allzu pragmatischer Absicht" verfasst, schrieb Müller. Vieles werde verschwiegen oder verdrängt. Anhand des Studiums bislang unbekannter Dokumente kommt Müller zu dem Schluss, dass Wehner eben nicht nur Opfer, sondern auch Täter war. So scheint jetzt belegbar zu sein, dass Kurt Funk alias Herbert Wehner entscheidend zur Entstehung des NKWD-Befehls beigetragen hat. Dieser Befehl der Stalinschen Geheimpolizei zur Verfolgung deutscher Trotzkisten in der Sowjetunion, denen man vorwarf, Stalin stürzen zu wollen, kostete viele Emigranten das Leben. Wehner habe "diejenigen, die ihm gefährlich werden konnten, selber beim Geheimdienst denunziert. Er hat sie bezichtigt wegen mangelnder Wachsamkeit, wegen Liberalität und hat versucht, diese Personen aus dem Weg zu räumen", resümiert Müller in einem Dokumentarfilm, der an diesem Mittwoch um 23.30 Uhr in der ARD ausgestrahlt wird (Tödliche Falle, Herbert Wehner in Moskau 1937). Ein Buch, in dem bislang unbekannte Dokumente über Wehners Verstrickungen im Stalin-Terror abgedruckt sind, wird im Frühjahr erscheinen. Gegenüber dem Abendblatt formuliert Müller: "Es waren erst Wehners schriftliche und mündliche Hinweise, die Stalins Geheimpolizei auf ,rechte' und ,linke' Gruppierungen und Personen aufmerksam machten. Seine publizistischen Vernichtungsfeldzüge in Zeitschriften und Zeitungen gegen linke ,Splittergruppen', die er - wie zum Beispiel Willy Brandts SAP - als ,trotzkistische Gestapo-Agenten' etikettierte, setzten zahlreiche Emigranten in der Sowjetunion der Verfolgung aus." Und weiter: "Seine denunziatorischen Expertisen und seine in der Lubjanka protokollierten Agenten-Berichte, in denen er dem NKWD umfassend über einzelne Genossen Bericht erstattete, führten dazu, dass nach dem Februar 1937 nicht nur in der Sowjetunion eine Säuberungswelle unter den deutschen Emigranten einsetzte, sondern NKWD-Agenten zur Verfolgung der Trotzkisten auch ins Ausland geschickt wurden." Wehners Berichte, so Müller, dienten letztlich als Vorlage für den so genannten NKWD-Befehl. In diesem Befehl ("Über die terroristische, Diversions- und Spionagetätigkeit deutscher Trotzkisten, durchgeführt im Auftrag der Gestapo auf dem Territorium der UdSSR") von Volkskommissar Nicolai Jeschow hieß es: "Alle archivierten Untersuchungsmaterialien über deutsche Trotzkisten sind sofort zu überprüfen und jene Teilnehmer der konterrevolutionären Gruppen zu verhaften, die wegen dieser oder jener Umstände noch nicht verhaftet wurden. In nächster Zeit muss mit der Einschleusung von Spitzeln in ausländische trotzkistische Zentren begonnen werden. Es muss die Spitzeltätigkeit in der Sowjetunion verstärkt werden. Es müssen besonders Spitzel nach Skandinavien entsandt werden. Es muss mit der Aufdeckung von Rechtsabweichlern in der KPD begonnen werden. Die Untersuchungsarbeit im Gulag ist zu organisieren. Qualifizierte Mitarbeiter müssen im Ausland monatlich Sammelberichte erstellen." Die Dokumente, die Müller in Moskauer Archiven fand, belegen nun eine weit gehende Übereinstimmung mit einem Wehner-Text vom 1. Februar 1937, der schon 1994 von der Gauck-Behörde freigegeben wurde. Es gebe zahllose Namen, Organisationen und Orte, die in derselben Reihenfolge in beiden Texten vorhanden sind. Das könne keine Fantasie oder Fiktion sein, sagte Müller dem Abendblatt. Auch seien Zweifel an den Moskauer Quellen nicht angebracht. Laut Müller gebe es keinen ernst zu nehmenden Historiker, der die Authentizität der Dokumente nicht anerkenne. Das gelte sowohl für das Archiv der Kommunistischen Internationale (Komintern) wie auch für das Präsidentenarchiv und das Archiv des Geheimdienstes NKWD. Dort lägen Hunderte Millionen Blätter, die man wohl nicht einfach fälschen konnte. In der Sowjetunion und in der DDR wurde zwar die Darstellung der Geschichte verfälscht, aber die Originaldokumente blieben in den Archiven. Was ist das Motiv des Hamburger Historikers? Über Tote, so heißt es doch, sage man nichts Schlechtes. Gilt das im Falle Wehner nicht? Es sei nicht einfach gewesen, die Geschichte Wehners zu schreiben, "eine Geschichte, die mit Schrecken und Erschrecken, mit Angst und Verzweiflung gefüllt ist", antwortet Müller. Aber indem diese Geschichte geschrieben wird, werde auch an viele weniger bekannte Opfer erinnert, deren Namen seit der Zeit des Terrors ausgelöscht wurden. Müller hat ihre Briefe gelesen, die in der NKWD-Haft geschrieben wurden, beklemmende Zeugnisse über ein Regime, das den Humanismus und die Menschheitsbefreiung auf seine Fahne geschrieben hatte. "Ich bin nicht auf der Jagd nach Wehner gewesen, es geht mir nicht um nachträglichen Verfolgungseifer, und ich bin auch kein moralischer Scharfrichter. Es geht mir in erster Linie um die Demontage des stalinistischen Systems, um damit über Terror, Gewalt und Verstrickung, Täter und Opfer, Sühne und Verdrängung nachzudenken." Und was ist mit dem Herbert-Wehner-Platz in Harburg, dem langjährigen Wahlkreis des Politikers (1949-1983)? Muss der nach den neuen Einsichten über "Onkel Herbert", wie dieser Mann von seinen Anhängern auch liebevoll genannt wurde, nun umbenannt werden? Und wird Wehner weiterhin Ehrenbürger der Stadt bleiben können? Müller hält dem entgegen, dass Wehner kein Agent Moskaus gewesen war. Er habe zwar im fortgeschrittenen Alter einige nostalgische Rückwendungen erlebt, wie seine Treffen mit Erich Honecker zeigen. Er sei aber auch ein gewendeter, gewitzter und machtbewusster Sozialdemokrat gewesen. Müller: "Seine Aufopferung für seine Partei, die SPD, sein Gestus der Askese haben natürlich mit seiner Moskauer Zeit zu tun. Und in Hamburg wurden auch diese Eigenschaften eines Sozialdemokraten geehrt, das sollten wir bedenken." Der Publizist Klaus Harprecht formulierte es vor Jahren anders: "Selbst für Wehners grimmigste Feinde besteht kein Anlass zum Triumph. Er war ein Hasser. Er scheute sich nicht, wenn es darauf ankam, auch Wehrlose in den Dreck zu treten. Den Dreck, den er gefressen hat, sein Lebtag lang."