Hunderttausende Karteikarten lagern in der “Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ - und noch immer kommen Fälle hinzu.

Ludwigsburg. Anton Malloth war 89 Jahre alt, als ihn das Münchner Landgericht im Mai 2001 zu lebenslanger Haftstrafe verurteilte. Und er war krank. Er hatte Krebs. Was den Vorsitzenden Richter dazu bewog, seine Urteilsbegründung mit den Worten einzuleiten, es werde gewiss eine öffentliche Diskussion darüber geben, ob es menschlich vertretbar sei, einen fast Neunzigjährigen für Taten ins Gefängnis zu stecken, die 56 Jahre zurücklägen. Von diesem "Lebenslänglich" hat Anton Malloth 1 Jahr, 4 Monate und 25 Tage abgesessen. Danach hat man ihn zum Sterben nach Hause geschickt. Zehn Tage später war der Mann, der beim Morden Handschuhe trug und den man im Gestapo-Gefängnis von Leitmeritz angstvoll den "schönen Toni" genannt hatte, tot.

Malloths Sterbetag ist auf der Karteikarte vermerkt, die Staatsanwalt Joachim Riedel aus einem der grauen Archivschränke zieht. Bei greisen Männern wie Malloth, meint er, gehe es gar nicht in erster Linie darum, sie ins Gefängnis zu stecken. Sondern darum, diesen letzten noch lebenden NS-Verbrechern zu zeigen, dass der Rechtsstaat nicht bereit sei, sie unbehelligt davonkommen zu lassen. "Wichtig ist, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit aufgeklärt wird und ein Schuldspruch erfolgt."

Wie so viele vor ihm hat auch Malloth in seinem Prozess trotzig geschwiegen und so demonstriert, dass er nicht bereit war, sich der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Kein Wort der Reue, keine Geste des Bedauerns gegenüber den angereisten Zeugen oder den Angehörigen der Opfer. Joachim Riedel hat das nicht erstaunt. Er könne keinen Fall erinnern, sagt er, in dem ein NS-Verbrecher um Verzeihung gebeten habe.

Riedel ist stellvertretender Leiter der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg. Die ist neulich in die Schlagzeilen geraten, als die Deutsche Presse-Agentur Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, den Leiter der Zentralen Stelle, mit dem Satz zitierte: "Das Ende unserer Arbeit ist absehbar." Daraus wurde allgemein geschlossen, dass spätestens 2008 Schluss sein wird. Im Jubiläumsjahr, denn die Zentrale Stelle ist 1958 gegründet worden. Es war ein Missverständnis. Das "absehbar" hatte der Öffentlichkeit nur signalisieren sollen, dass die letzten NS-Täter jetzt an der Schwelle zum Jenseits stehen.

So war zum Beispiel Johannes Thümmler, der Gestapo-Chef von Kattowitz, der als Vorsitzender des Sondergerichts in Auschwitz mehr als tausend Todesurteile abgezeichnet haben soll, 96 Jahre alt, als man die Ermittlungen vor fünf Jahren aus Mangel an Beweisen einstellte. Und Friedrich Engel, Jahrgang 1913, ist im vergangenen Juli gestorben. Der promovierte Philologe, der als "Henker von Genua" in die Geschichte einging, war 2002 vom Hamburger Landgericht wegen mehrfachen Mordes zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber dann durch höchstrichterliches Urteil freigekommen: Der Bundesgerichtshof hatte entschieden, die Hamburger Richter hätten das Mordmerkmal der besonderen Grausamkeit nicht ausreichend belegt.

Erich Priebke, ebenfalls Jahrgang 1913, war 82 Jahre alt, als ihn die Argentinier endlich auslieferten, und 85, als ihn die Italiener für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen zu lebenslanger Haft verurteilten. Priebke, inzwischen fast 94, lebt noch. Aufgrund seiner angeblich angeschlagenen Gesundheit darf er die Strafe im Hausarrest verbüßen, kann sich aber in Rom offenbar frei bewegen.

Ja, meint Joachim Riedel, es sei schon bemerkenswert, "wie krank die Herrschaften waren, wenn's vor Gericht ging". Und dass es immer wieder Ärzte gebe, die bereit seien, diesen speziellen Patienten Verhandlungs- oder Haftunfähigkeit zu bescheinigen. Trotz solcher Dämpfer hält man es in Ludwigsburg nicht für ausgeschlossen, den einen oder anderen noch an den Kanthaken zu kriegen. Der Fall Malloth hat hier allen großen Auftrieb gegeben. Malloth ist der bislang letzte in Deutschland rechtskräftig verurteilte NS-Täter.

Ein Mann wie Anton Malloth, hieß es in der Urteilsbegründung, sei "verantwortlich bis ans Ende seiner Tage". Das war nicht immer bundesdeutscher Konsens. Wer sich die kleine Ausstellung anschaut, die im Ludwigsburger Torhaus untergebracht ist, stößt dort auch auf eine 1968 protokollierte Äußerung des CDU-Bundestagabgeordneten Max Güde. Güde bezeichnete eine Moskau-Reise der Ludwigsburger Ermittler damals als "instinktlos" und fuhr fort: "Wenn die Russen zwanzig Jahre lang in böser Absicht Beweismaterial verweigern, dann ist das Verwirkung. Aber unsere Idioten fahren auch noch hin und holen das Zeug ab!" Damit hatte Güde, der ehemalige Generalbundesanwalt, offenbar vielen Deutschen aus der Seele gesprochen. In einem Brief, der kurz darauf in Ludwigsburg eintraf, hieß es: "Euch sollte man alle einen Kopf kürzer machen, Ihr Lumpen!" Das waren die Zeiten, in denen die Nazijäger lieber nicht sagten, wo sie arbeiteten, wenn sie eine Wohnung suchten.

Als Güde sich so erregte, stand im Bundestag erneut eine Debatte über die Verjährung für Tötungsverbrechen an. Trotz der allgemeinen Schlussstrich-Stimmung stimmten die Parlamentarier im Juni 1969 dem Strafrechtsänderungsgesetz zu, das die Verjährungsfrist von zwanzig auf dreißig Jahre verlängerte. Wiederum zehn Jahre später beschlossen sie, die Verjährung für Mord und Völkermord gänzlich aufzuheben. Emotional hatte die Ausstrahlung des "Holocaust"-Vierteilers den Boden für diese Entscheidung bereitet - praktisch betrachtet, wollte die Bundesrepublik Deutschland in die Uno aufgenommen werden.

Der Karteiraum, das Allerheiligste, ist in Ludwigsburg speziell gesichert. 691 240 Namenskarten sind hier eingeschlossen. Außerdem 614 904 Karteikarten, die einen Bezug zu den Orten haben, an denen NS-Verbrechen begangen wurden, und weitere 364 120 Karten, die sich auf die darin verwickelten militärischen Einheiten beziehen.

Eine andere Statistik sagt, dass seit Kriegsende 106 496 namentlich Beschuldigte bei den deutschen Staatsanwaltschaften erfasst wurden und dass es in 6498 Fällen zu rechtskräftigen Urteilen gekommen ist. 13 Angeklagte wurden - vor 1949 - zum Tode verurteilt, in 6368 Fällen wurden Freiheitsstrafen verhängt, davon 167-mal "Lebenslänglich". 115 Angeklagte kamen mit einer Geldstrafe davon, einer wurde nach dem Jugendrecht verwarnt, einer freigesprochen.

Das Wort Nazijäger hört man in Ludwigsburg übrigens nicht gern. Und tatsächlich sieht man den Herren Schrimm und Riedel ihre eiserne Ausdauer nicht sofort an. Ihre Büros wirken eher altmodisch-betulich. Bei Riedel lehnt eine Postkarte im Akten-Regal, die auf das hinweist, was der aus Münster stammende Jurist gemacht hat, bevor er 1999 nach Ludwigsburg abgeordnet wurde. Darauf steht: "Die DDR ist tot. Es leben die Akten." Joachim Riedel hat von 1991 bis 1999 zur Berliner "Arbeitsgruppe Regierungskriminalität" gehört und unter anderem die Anklage gegen Erich Honecker mitvertreten.

Als der Ermittler im vergangenen Dezember 65 Jahre alt wurde, hat man ihn gebeten, weiterzuarbeiten. "Bei Herrn Riedel", schrieb die Lokalzeitung, "macht sogar die Justiz eine Ausnahme." Kurt Schrimm ist acht Jahre jünger. Er sagt von sich, dass er wohl der letzte Leiter der Zentralen Stelle sein wird. Bis wann die Arbeit weitergeht, das weiß er nicht. Noch immer tauchen neue Papiere auf.

Vor Kurzem hat Paris die Gestapo-Akten aus Frankreich an Deutschland übergeben, unter denen sich auch ein Handbuch zur "Sonderbehandlung" sowjetischer Kriegsgefangener befand, aus Prag kam das Kriegsarchiv der Waffen-SS, und in La Spezia werden gerade reihenweise ehemalige SS-Männer für ihre Beteiligung am Massaker von Sant' Anna di Stazzema verurteilt. Allerdings in Abwesenheit, weil Deutschland die Täter nicht nach Italien ausliefert. "Da schnackelt's", sagt Joachim Riedel.

Ludwigsburg arbeitet noch - das ist die Botschaft an alle noch lebenden NS-Verbrecher. Zum Beispiel an den 92-jährigen Aribert Heim. Den berüchtigten Arzt von Mauthausen, der seine "Patienten" bei lebendigem Leibe regelrecht ausweidete. Er soll sich zurzeit in Chile aufhalten . . .