Klartext zu Rasterfahndung, Bundeswehr im Innern, Luftsicherheit, RAF . . .

ABENDBLATT: Herr Prof. Hoffmann-Riem, seit Sie 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht wurden, bekamen Sie in Ihrer Rolle als Berichterstatter Akten von über 2600 Fällen auf den Tisch. Was war für Sie die wichtigste Entscheidung?

WOLFGANG HOFFMANN-RIEM: Grundsätzlich ist jede wichtig. Besonders wichtig sind aber Konflikte, bei denen es keine einfachen Lösungen gibt, und solche, bei denen Minderheiten gegen die Mehrheit geschützt werden müssen oder wenn Grundrechte gegen einen politischen Trend zu verteidigen sind. So tauchen seit dem 11. September 2001 immer wieder zwei Fragen auf: "Wie viel Schutz brauchen wir zugunsten der Sicherheit?" Aber auch die Gegenfrage: "Wie viel Freiheit wollen wir aufgeben?"

ABENDBLATT: Darf ein Verfassungsrichter Nachrichten lesen, wenn er sich Trends entziehen will?

HOFFMANN-RIEM: Ein Verfassungsrichter darf nicht weltfremd sein. Er muss sehr interessiert, informiert und bereit sein, zwischen den Zeilen zu lesen.

ABENDBLATT: Als das Bundesverfassungsgericht Teile des Luftsicherheitsgesetzes für nichtig erklärte, ging es auch um die Abwägung zwischen dem Leben der Menschen, die in einem entführten Flugzeug sitzen, das vielleicht abgeschossen werden muss, und dem Leben der Menschen, die etwa in einem Hochhaus sitzen, in das das Flugzeug fliegen könnte. Warum hat das Gericht für solche Fälle den Abschuss nicht erlaubt?

HOFFMANN-RIEM: Thema waren das Recht auf Leben und die Menschenwürde. Darf der Staat Mensch gegen Mensch aufrechnen? Darf er Menschen gezielt opfern? Darf er das, wenn sich nicht einmal sicher feststellen lässt, dass von dem Flugzeug die befürchtete Gefahr ausgeht? Der Staat muss respektieren, dass sich nicht alles rechtlich regeln lässt.

ABENDBLATT: Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble will nicht davor kapitulieren. Er will im Grundgesetz einen Quasi-Verteidigungsfall schaffen.

HOFFMANN-RIEM: Minister Schäuble meint seit Langem, die Streitkräfte sollten eine größere Rolle im Bereich der inneren Sicherheit spielen. Ob er damit Erfolg haben wird, weiß ich nicht. Wenn ja, wird dies vermutlich wieder beim Bundesverfassungsgericht landen.

ABENDBLATT: Auch bei der Rasterfahndung ging es ja um Sicherheit und Freiheit. Was spricht dagegen, per Rasterfahndung Terroristen zu suchen?

HOFFMANN-RIEM: Gar nichts, wenn hinreichende konkrete Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben bestehen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird. Daran mangelte es bei der von uns überprüften Rasterfahndung. Nebenbei: Sie war auch nicht erfolgreich. Zur Ermittlung potenzieller islamistischer Terroristen hat sie jedenfalls nicht geführt. Möglicherweise hat sie zu Anhaltspunkten für andere Straftaten geführt. Wenn man kleine Fische fängt, aber der an sich gesuchte Hai ist so nicht zu fangen, dann kann man nicht den Hai als Rechtfertigung nehmen.

ABENDBLATT: Wie hat sich der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit Ihrer Meinung nach verändert?

HOFFMANN-RIEM: Die Rasterfahndung in der RAF-Zeit galt dem konkreten Auffinden von bekannten Personen. Man wusste, wer sie sind, wusste, sie mieten Wohnungen an, bezahlen bar. Hier gezielt zu suchen begegnet keinen Bedenken. Jetzt wird dasselbe Instrument benutzt, um Schläfer zu finden, also Personen, von denen man nichts weiß, nicht einmal, ob es sie gibt. Man muss stets fragen, ob alte Instrumente auch in neuen Situationen taugen.

ABENDBLATT: Es gibt neue Instrumente wie Online-Ermittlungen. Kürzlich sind Verdächtige im Zusammenhang mit einem Porno-Ring über Kreditkartendaten ermittelt worden. Werden da nicht auch die Rechte von unbescholtenen Internet-Usern berührt?

HOFFMANN-RIEM: Die Sache wird wohl noch zu uns kommen. Deswegen kann ich dazu nichts sagen. Allgemein gilt: Neue technologische Möglichkeiten darf auch der Staat nutzen. Wenn die Verbrecher technologisch aufrüsten, muss der Staat mithalten. In einem Rechtsstaat müssen aber dennoch die Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe klar umrissen sein. Auf keinen Fall darf ins Blaue hinein ermittelt werden.

ABENDBLATT: Bei derart vielen Maßnahmen und Gesetzen, die derzeit verfassungsrechtliche Bedenken hervorrufen, gewinnt man den Eindruck, dass das Bundesverfassungsgericht gerade in Zeiten der Großen Koalition zu einem politischen Akteur wird.

HOFFMANN-RIEM: Das ist ein Verfassungsgericht stets, auch in Zeiten Kleiner Koalitionen. Im Übrigen sind auch die vielen Verfassungsbeschwerden, die uns seit Jahren erreichen, von politischer Bedeutung, auch wenn nur etwa 2,5 Prozent Erfolg haben. Hier geht es um Grundrechte. Freiheitsrechte benötigen gerichtlichen Schutz, übrigens nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen gesellschaftliche Machtträger.

ABENDBLATT: Liefern die Politiker mit manchen Gesetzen schlampige politische Arbeit ab?

HOFFMANN-RIEM: Nein, eine solche Kritik ist populistisch. Ich habe als Justizsenator und Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundesrates ja in die Gesetzgebung reingeguckt. Ich weiß, welch schwieriges Geschäft es ist, Mehrheiten zu organisieren und Gerechtigkeit möglichst für alle zu suchen. Da lässt sich nicht alles sicher vorhersehen. Da sind Kompromisse häufig unvermeidbar. Eine Große Koalition hat es insofern nicht leichter als eine Kleine.

ABENDBLATT: Hat sich etwas verändert im Verhältnis von Regierung und Bundespräsident Horst Köhler, der zwei wichtige Gesetzesvorhaben gestoppt hat?

HOFFMANN-RIEM: Auch frühere Bundespräsidenten haben Gesetze nicht ausgefertigt. Fast jeder Jurastudent hat irgendwann einmal eine Klausur zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten geschrieben. Wenn der Präsident formale Fehler im Gesetzgebungsverfahren bemerkt, dann darf er das Gesetz nicht ausfertigen. Schwierig wird es, wenn er, wie beim Luftsicherheits- und beim Verbraucherinformationsgesetz, in die inhaltliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einsteigt. Hier lastet der Bundespräsident sich eine Verantwortung auf, die er auf Dauer kaum tragen kann.

ABENDBLATT: Der Bundespräsident hat auch das Gnadenrecht. Sollte er Ex-RAF-Terroristen wie Christian Klar begnadigen?

HOFFMANN-RIEM: Gnade ist ein bewährtes Mittel nicht nur, um dem Verurteilten eine neue Chance zu geben, sondern auch zur gesellschaftlichen Befriedung.

ABENDBLATT: Sie selbst haben sich mit dem Täter-Opfer-Ausgleich befasst. Können Sie die Motive von Opfern nachvollziehen, die Begnadigungen skeptisch gegenüber stehen?

HOFFMANN-RIEM: Das kann ich gut verstehen. Unsere Rechtsordnung nimmt die Opfer am ehesten als Zeugen wahr, gewissermaßen als Instrumente der Rechtspflege. Damit wird man ihrer Lage nicht gerecht. Wir müssen die ihnen zugefügte Verletzung ernst nehmen und nachsichtig sein, wenn sie Sühne verlangen. Als Hamburger Justizsenator habe ich mit Opfern, etwa von Sexualstraftaten, gesprochen und erlebt, wie sie doppelt und tausendfach leiden. Das aber ist nicht die einzige Messlatte. Auch für die Täter muss die Zeit kommen dürfen, einen Strich unter ihre Vergangenheit zu ziehen.

ABENDBLATT: Berühren Sie manche Fälle persönlich?

HOFFMANN-RIEM: Auch als Verfassungsrichter sehe ich viel Leid. So lese ich fast täglich Akten über Familienstreitigkeiten. Das Elend, das sich im Streit um Sorgerecht oder Unterhalt und an den vielen kleinen und großen Gemeinheiten zeigt, lässt mich nicht kalt, vor allem wenn Kinder als Waffe eingesetzt werden, um alte Rechnungen mit dem früheren Ehepartner zu begleichen.