Widerstand: Das Attentat vom 20. Juli jährt sich morgen zum 60. Mal. Ein junger Offizier, der schon neun Monate vorher den Tyrannenmord versuchte, bleibt meistens unerwähnt. Woran er scheiterte und warum er von den Nazis nicht enttarnt wurde . . .

Hamburg. Morgen ist es 60 Jahre her, dass das Attentat des Grafen Stauffenberg auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 scheiterte. Keine neun Monate zuvor hatte er einen ungleich größeren Anschlag geplant, bei dem mit Hitler auch Göring und Himmler getötet werden sollten: Ein Selbstmord-Attentäter wollte sich mit ihnen in die Luft sprengen - Axel Freiherr von dem Bussche.

Die Spur, die er auf Erden hinterließ, flößt Respekt ein, die Fährte des Axel von dem Bussche-Streithorst, fünfmal verwundet und mit dem Ritterkreuz dekoriert, einbeiniger Held der Wehrmacht und des Widerstandes. Er wollte sein Leben geben, um Hitlers zu nehmen, Patriot und Protestant, ein ungewöhnlicher Mann mit ungewöhnlichem Charisma. Ob auf Staatsempfängen oder im Schützengraben, im Klassenzimmer oder in Spelunken - stets und überall schlug er die Menschen in seinen Bann, wie ich es bei niemandem sonst erlebte, ein Ritter aus einer anderen Welt und Zeit, eher Lancelot als Siegfried, dessen Zauber auf fast jeden wirkte.

Axel von dem Bussche entstammte niedersächsischem Uradel. Seine Mutter war Dänin und schenkte ihm an einem Ostersonntag das Leben: Das Sonntagskind, das Hitler töten wollte, wurde an Hitlers 30. Geburtstag in jener Stadt geboren, die Hitler durch Einbürgerung zum Deutschen machte - am 20. April 1919 in Braunschweig. Mit 13 trat der Schüler des Internats Neubeuern in die Hitler-Jugend ein, mit 16 wieder aus (aus Langeweile). Dazwischen erblickte er Hitler und Himmler zum ersten Mal. Sie sahen für den Jungen aus "wie zwei Naturkunde-Lehrer". Nach Abitur und Arbeitsdienst rückte er 1937 als Fahnenjunker in das legendäre Infanterie-Regiment 9 in Potsdam ein, in dem Tradition und Geist der preußischen Garde fortlebten.

Am zweiten Tag des Zweiten Weltkrieges starb in Polen auf der Tucheler Heide durch einen Halsschuss neben ihm sein Freund Heinrich von Weizsäcker. Bussche schloss sich nun enger an dessen Bruder Richard an, der ebenfalls dem I. R. 9 angehörte. Nach Beginn des Ostfeldzuges verlor das Regiment im Norden Russlands 618 von 843 Mann. Bussches Bruder fiel am Asowschen Meer.

Im Oktober 1942 wurde der 23 Jahre alte Oberleutnant in der Ukraine zufällig Zeuge eines Massenmordes. Vor einer ausgehobenen Grube auf dem ausrangierten Flugplatz von Dubno stand stumm eine mehrere Hundert Meter lange Schlange nackter Menschen, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Mütter mit Babys auf dem Arm. Acht Angehörige eines Sonderkommandos der SS bewachten sie. Einer von ihnen saß auf dem Rand der Grube. Seine Beine baumelten herab. Auf dem Schoß hielt er eine Maschinenpistole. Auf ein Zeichen von ihm stiegen die vordersten der Schlange über Erdstufen in die Grube. Sie legten sich mit dem Kopf nach unten auf eine schon vorhandene Schicht manchmal noch zuckender Leiber. Der SS-Mann feuerte und winkte den Nächsten. Die Schlange bewegte sich vorwärts. So wurden in Dubno an zwei Tagen 3000 Juden erschossen.

Nach dem Erlebnis von Dubno entschloss sich Axel von dem Bussche zum Tyrannenmord, eine ihm "moralisch notwendig" erscheinende Tat, die allerdings zugleich den wichtigsten Wesenszug der "christlichen Lösung" beinhalten sollte - den eigenen Tod. "Als Offizier musste ich täglich Soldaten in ihren Tod schicken", sagte er mir: "Nur Narren können glauben, dass ich unter solchen Umständen die Beendigung meines eigenen Lebens als Opfer empfunden hätte."

Ein gemeinsamer Freund brachte ihn im Herbst 1943 zum Chef des Stabes des Ersatzheeres, Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Herz und Hirn des militärischen Widerstandes gegen Hitler. Er war in Afrika verwundet worden, hatte ein Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken verloren. Der 24-jährige Bussche war von dem "hellen Glanz der sicheren Gelassenheit" des 36-jährigen Stauffenberg fasziniert. Sie besprachen den Plan.

Ende November sollten Hitler in seinem ostpreußischen Hauptquartier "Wolfsschanze" neue Heeresuniformen für den Winterfeldzug im Osten vorgeführt werden. Axel von dem Bussche, hoch gewachsen (1,96 m), blond und blauäugig, mehrfach verwundet und mit Tapferkeitsauszeichnungen übersät, war dafür wie geschaffen, ein Recke des Krieges nach des "Führers" Geschmack. Bei der Vorführung wollte er Hitler anspringen, ihn umklammern und sich mit ihm und seiner Begleitung in die Luft sprengen, darunter Hermann Göring und Heinrich Himmler. Als Sprengstoff, den er in den Tiefen der neuen Uniform verbergen würde, erhielt Bussche mehr als ein Kilo Dynamit. Einen lautlosen englischen Zeitzünder (den Stauffenberg selbst am 20. Juli 1944 benutzte) lehnte er ab. Er wollte sich lieber auf eine ihm vertraute deutsche Handgranate verlassen. Sie machte zwar vor der Explosion ein leises Geräusch, das aber durch ein Hüsteln zu übertönen war.

Bussche erhielt Marschbefehl nach Ostpreußen. Er las in jenen Tagen Ernst Jüngers "Marmorklippen". In der Gästebaracke des Oberkommandos des Heeres, 15 Kilometer von der "Wolfsschanze" entfernt, wartete er drei Nächte auf das Eintreffen der Uniformen. Das Einzige, was er fürchtete, war, "dass meine Nerven versagen könnten". Da traf die Nachricht ein, dass die Waggons mit den neuen Ausrüstungen nach einem Luftangriff in der Nähe von Berlin ausgebrannt waren. Axel von dem Bussche kehrte an die Front zurück. Wenig später verlor er sein rechtes Bein (einen Daumen hatte er schon vorher eingebüßt), erhielt das Ritterkreuz und wurde zum Major befördert.

Als dann am 20. Juli 1944 Stauffenbergs Bombe in der "Wolfsschanze" explodierte, war der schwer verwundete Bussche noch an sein Bett im SS-Lazarett Hohenlychen gefesselt. Sein monatelanger Hospital-Aufenthalt war sein bestes Alibi. Dennoch wurde auch er vernommen. Belastende Seiten aus seinem Adressbuch hatte er vorher nachts aufgegessen. Aber auf seinem Spind lag nach wie vor wohl verpackt eine Sendung, die seine Einheit ihm ahnungslos nachgeschickt hatte und derer er sich - völlig bewegungsunfähig - nicht entledigen konnte: die Sprengladung für Hitler. Sie blieb unentdeckt. Insgesamt wurden nach dem 20. Juli mehr Offiziere des I. R. 9 exekutiert, als von jedem anderen Regiment.

Nach dem Krieg studierte Axel von dem Bussche mit seinem engsten Freund Richard von Weizsäcker Jura in Göttingen, arbeitete in der deutschen Abteilung der BBC in London und wurde nach der Währungsreform für 300 DM im Monat Lektor im Suhrkamp-Verlag. 1950 heiratete er Camilla, Tochter des 5. Earl of Gosford, die zwölf Jahre lang mit Hans Christoph Freiherr von Stauffenberg verehelicht gewesen war. Sie brachte drei Söhne mit in die Ehe und sollte Axel von dem Bussche zwei Töchter schenken.

Er gehörte zu der Hand voll ehemaliger Soldaten, die unter Kanzler Adenauer die Aufstellung der Bundeswehr vorbereiteten, diente vier Jahre an der deutschen Botschaft in Washington und wurde Headmaster des Internats Schloss Salem. Jungen und Mädchen hatten gefunden, was man allen Heranwachsenden wünschen kann: ein Vorbild, zu dem sie aufschauen konnten. Er verkörperte Härte gegen sich und Güte gegen andere, Anstand und Edelmut, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Wenn seine mächtige Gestalt auf einen groben Stock gestützt durch Hallen und Säle humpelte, dann kündete ein unverwechselbares Geräusch sein Kommen: tok, tok, tok, Mythos und Magie.

Doch die endlosen Flure und Treppen des Schlosses überstiegen die Kraft des Versehrten. Er erlitt einen leichten Herzanfall und musste die Schulleitung niederlegen. Aber sein Lebensweg blieb verzahnt mit dem, was eines Tages Geschichte werden würde. Er baute den Deutschen Entwicklungsdienst auf, übersiedelte zum Weltkirchenrat nach Genf, bereitete die erste Umweltkonferenz der UNO mit vor und beriet die Weltbank. "Lieber Claus", hieß es in einem für ihn typischen Brief an mich: "Ich bin zum Platzen voll von Sorgen. Regieren heißt voraussehen. Wo wird regiert und vorausgesehen?"

Als Bundespräsident nahm ihn sein Freund Richard von Weizsäcker auf Staatsbesuchen mit. Hollands Königin Beatrix und Prinz Claus reisten mit ihm privat durch das wieder vereinigte Deutschland. Er lunchte mit Adorno, Golo Mann und Hannah Arendt. Der Schweizer Schriftsteller Carl J. Burckhardt und der englische Philosoph Arnold Toynbee besuchten ihn in seinem Haus "En Menthon", hoch über dem Genfer See.

Nach dem Tod seiner geliebten Frau Camilla kehrte der "verwundete Löwe", wie ihn seine Patentochter nannte, nach Deutschland zurück. Phantom-Schmerzen in seinem amputierten Bein quälten ihn. Er war auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Lebenswille des 73-Jährigen erlosch. Am 26. Januar 1993 schlief er ein. Auf dem Gut Lehrensteinsfeld seines Schwiegersohnes wurde er begraben. Sechs Soldaten der Bundeswehr hielten Ehrenwache an seinem Sarg. Der Bundespräsident und Prinz Claus der Niederlande standen unter jenen, die gekommen waren, einem Verstorbenen ohne Rang und Amt, Titel und Würden die letzte Ehre zu erweisen. Wehmütig wehte die Melodie vom "Guten Kameraden" durch den Schlosspark. Axel von dem Bussche war der einzige Deutsche, dem ich glaubte, wenn er sagte: "Unsere Schuld ist es, überlebt zu haben."