Kommentar

Im ehemaligen Konzentrationslager Stutthoff (Stutowo) nahe Danzig gibt es einen Raum, in dem die Habseligkeiten der Häftlinge gesammelt wurden, bevor sie in den Tod gingen: Brillen, Zahngold, Kleidung, Schuhe, Haare. An der Wand hängt ein altes Foto: eine Hand, die ein Paar Schuhe hält. Die Hand erscheint merkwürdig groß im Vergleich zu den Schuhen. Erst beim zweiten Blick erkennt man, dass es die Schuhe eines kleinen Kindes sind. Vermutlich das erste Paar im Leben des Kindes. Und das letzte. Das Foto brennt sich ins Gehirn. Es löst blitzartig Erschrecken, Mitgefühl und Verständnis aus, wirkungsvoller als kluge Aufsätze. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und dem Zentralrat der Juden in Deutschland ist ein Meilenstein in der deutschen Geschichte. Trotzdem hört man jedes Jahr die Kritik, die Holocaust-Gedenkveranstaltungen seien zu einem "verordneten Ritual" geworden, das zu stummer Ergriffenheit verdonnert. Diese Kritik ist zynisch, sie bürdet den Opfern noch die Last auf, für eine unterhaltsame Aufarbeitung ihres Leids zu sorgen, eine Art Gedenk-Pop. Aber eines würde unserer Denkmal- und Gedenkkultur gut tun: Lasst weniger Steine oder Stelen, sondern mehr Überlebende erzählen, lasst Bilder reden. Deshalb sind Schülerwettbewerbe wie der Bertini-Preis, der gestern in Hamburg verliehen wurde, oder Steven Spielbergs Shoah-Initiative so wichtig: Sie ermuntern Jugendliche, sich auf Menschen und ihre Schicksale einzulassen, zuzuhören, hinzusehen; und eigene Schlüsse zu ziehen, wie "harmlos" Intoleranz anfängt - und wie sie endet.