Frank Ulrich Montgomery, Chef der Bundesärztekammer, über Reformen im Gesundheitswesen, Schönheitsoperationen und was Übergewicht mit Hüftprothesen zu tun hat

Hamburg. Seit einem Jahr ist der Hamburger Radiologe Frank Ulrich Montgomery, 59, Präsident der Bundesärztekammer. Deutschlands Chefarzt vertritt nicht nur vehement die Belange der Mediziner. Er setzt sich auch kritisch mit dem gesamten Gesundheitswesen auseinander. Im Abendblatt spricht er über die Probleme der Krankenhäuser, Schönheitsoperationen und die alternde Gesellschaft.

Hamburger Abendblatt:

Herr Dr. Montgomery, in Hamburg gab es angespannte Situationen in Notaufnahmen von Krankenhäusern, weil Patienten sich nicht richtig behandelt fühlten. Hat sich aus Sicht der Ärzte die Arbeitsbelastung in den Kliniken verschärft, oder ist das für Patienten schon die gewohnte Situation?

Frank Ulrich Montgomery:

Es gibt eine beträchtliche Arbeitsverdichtung: immer mehr Fälle, die in kurzer Zeit im Krankenhaus behandelt werden müssen, und immer mehr Notfälle. Dabei kommt es immer wieder auch zu Kommunikationsproblemen. Infolgedessen kann es manchmal vorkommen, dass Ärzte ein gesundheitliches Problem im Vergleich zu schwerwiegenden Fällen rein fachlich als nicht so gravierend beurteilen. Gleichwohl ist es für den Betroffenen ein sehr zentrales Problem. Außer Frage steht aber, dass ein Patient im Notfall so schnell wie möglich die Hilfe bekommen muss, die er benötigt.

Die Krankenhäuser verlangen mehr Geld, um die Versorgung aufrechterhalten zu können. Können wir uns die derzeitigen Strukturen noch leisten?

Montgomery:

Die Krankenhäuser rufen zu Recht nach mehr Geld. Man hat ihnen vor drei Jahren ein besonderes Sparziel auferlegt und gesagt: Ihr bekommt weniger Geld, obwohl ihr mehr Leistung erbringen müsst, weil die Krankenkassen Not leiden. Nun wissen wir, dass wegen der guten Entwicklung des Arbeitsmarktes die Krankenkassen über Milliarden-Überschüsse verfügen. Da ist es nicht mehr redlich, den Krankenhäusern ein Sonderopfer abzuverlangen. Jetzt geht man einen Mittelweg, indem man den Krankenhäusern einen Teil der berechtigten Tarifsteigerungen für Ärzte und Krankenschwestern bezahlt.

Wird heutzutage zu viel operiert?

Montgomery:

Es gab eine Debatte um Äußerungen des Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr (FDP). Man hat ihm in den Mund gelegt, dass zu viele Endoprothesen-Operationen in Deutschland durchgeführt würden ...

... aber bei den künstlichen Knie- und Hüftgelenken stimmt das doch auch im internationalen Vergleich.

Montgomery:

Schauen wir uns einmal die ganze Wahrheit an. Es gibt drei Faktoren, die genau erklären, warum wir heute mehr Endoprothesen-OPs haben: Erstens werden die Menschen älter, und Endoprothesen-OPs sind klassische Verschleißreparaturen. Je älter Menschen werden, desto mehr Eingriffe wird man brauchen. Zweitens: Die Menschen werden rapide immer übergewichtiger. Gerade die Adipositas fördert den Verschleiß an Knie- und Hüftgelenken. Und drittens: Wir haben immer bessere Operations- und Narkoseverfahren. Nimmt man das zusammen, haben wir eine Erklärung dafür, warum wir Menschen nicht Schmerzen, Siechtum und Rollstuhl zumuten, sondern sie mit Endoprothesen medizinisch korrekt und schnell versorgen.

Wenn die Situation der gesetzlichen Krankenkassen so gut ist wie derzeit, braucht man doch nicht an den Leistungen für die Patienten zu sparen, oder?

Montgomery:

Im Moment reden wir über die Verteilung von Überschüssen und nicht über die Verwaltung des Mangels.

Also muss die umstrittene Praxisgebühr schon mal weg?

Montgomery:

Die erste Forderung müsste eigentlich sein, dass man einen Großteil des Geldes im System belässt, denn es ist gut möglich, dass sich die wirtschaftliche Situation bald wieder ändert. Über den Puffer von heute verschaffen wir uns dann etwas Zeit. Wenn die Politik schon vor Wahlen Geld verteilen will, sollte sie als Erstes die Praxisgebühr abschaffen. Sie steuert nicht, sie zieht Patienten nur das Geld aus der Tasche. Und sie führt im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als einzige Leistung dazu, dass zwischen Patienten und Arzt ein Geldtransfer stattfindet. Das produziert wahnsinnige Verwaltungskosten. Mit dem Verzicht auf die Praxisgebühr würde man auch bei den Ärzten Bürokratie sparen. Das wäre eine Win-win-Situation.

Mit welcher Gesundheitsreform rechnen Sie nach der Bundestagswahl 2013?

Montgomery:

Jede neue Bundesre-gierung nach 2013 hat das große Glück, nicht gleich Notgesetze auflegen zu müssen, weil es derzeit genügend Geld in der Krankenversicherung gibt. Deswegen kann man langfristig denken. Wir sind gegen ein System à la Bürgerversicherung. In den Einheitssystemen fällt der Patient hinten herunter. Die Bürgerversicherung - so wie die SPD sie angedacht hat - wäre der Turbolader für die Zweiklassenmedizin. Weil alle Menschen, die mehr Geld verdienen, sich sofort privat Leistungen dazukaufen. Und es würde private Zusatzversicherungen geben, die alles Mögliche abdecken. Und wer sich das leisten kann, hat eine bessere Versorgung. Diese Zweiklassenmedizin wollen wir nicht.

Wegen der Skandale um die fehlerhaften Brustimplantate und die maroden künstlichen Hüftgelenke standen auch die Ärzte im Fokus, die sie eingesetzt haben. Was können Sie dagegen tun?

Montgomery:

Gerade der Skandal um die Brustimplantate hat gezeigt, dass das eben nichts mit den Ärzten zu tun hat. Diese Implantate waren hervorragend eingesetzt. Das waren Produkte mit den entsprechenden Stempeln und Prüfungen. Wir glauben, es ist ein politisches Versagen, dass man bei Medizinprodukten bis heute nicht dieselben strengen Prüfkriterien anlegt wie bei Arzneimitteln. Wir fordern, dass das endlich geändert wird. Auf europäischer Ebene gibt es da Fortschritte.

Der Bundestag hat ein neues Gesetz für Organspenden auf den Weg gebracht. Die Krankenkassen sollen ihre Mitglieder regelmäßig anschreiben. Reicht das, um die Zahl der Spender zu erhöhen?

Montgomery:

Manche hätten sich die Widerspruchslösung wie in Spanien gewünscht. Danach ist jeder ein potenzieller Organspender, wenn er nicht ausdrücklich widerspricht. Das wäre vielleicht die effektivste Methode, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Ich sage aber: In einer Gesellschaft, in der wir über jeden medizinischen Eingriff aufgeklärt sein müssen, wo Patienten unterschreiben müssen und wo ihnen großzügig Bedenkzeit eingeräumt wird, da passt es einfach nicht in die Welt, wenn man sagt: Weil ein Mensch sich nicht geäußert hat, unterstellen wir ihm, dass er dem größtmöglichen Eingriff, nämlich einer Organspende, zustimmen würde. Deswegen finde ich den jetzigen Kompromiss gut.

Was muss dem jetzt in der Praxis folgen?

Montgomery:

Das Kernproblem lösen wir nur durch eine bessere Organisation, durch die Einrichtung von Transplantationsbeauftragten in den Kliniken und durch eine bessere Finanzierung der Kliniken bei der Organspende. Die Zentren, die die Organe einsetzen, sind gut abgesichert. Aber bei der eigentlichen Organspende ist es so, dass die Klinik, die einen Spender meldet, auf Arbeit und Aufwand oftmals sitzen bleibt. Wenn man das löst, tut man viel Gutes für die Organspende.