Kritik in noch nie da gewesener Schärfe zum Jahrestag des Sieges über Deutschland. Berlin gedenkt der Opfer der Hitler-Diktatur

Moskau/Berlin. In einer bislang nie dagewesenen Schärfe hat der russische Präsident Dmitri Medwedew die Sowjetunion verurteilt. Zwei Tage vor dem 65. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg sagte Medwedew der Zeitung "Iswestija", die Sowjetunion sei ein "sehr komplizierter Staat" gewesen. "Wenn wir ehrlich sind, kann das damals in der Sowjetunion geschaffene Regime nicht anders als totalitär genannt werden." Diktator Josef Stalin habe "Massenverbrechen" an seinem Volk begangen. Zwar habe es Erfolge unter seiner Herrschaft gegeben, "was seinem eigenen Volk angetan wurde, kann aber nicht verziehen werden".

Es war das erste Mal, dass sich Medwedew in seiner bislang zweijährigen Amtszeit derart deutlich über die Sowjetunion äußerte. Medwedews Vorgänger, der heutige Ministerpräsident Wladimir Putin, hatte 2005 in einer Rede an die Nation gesagt, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die "größte geopolitische Katastrophe" des 20. Jahrhunderts gewesen.

Am Sonntag findet in Moskau die jährliche Parade zum Sieg über Hitler-Deutschland statt. Daran nehmen 10 000 russische sowie Soldaten aus Großbritannien, Frankreich, Polen und den USA teil. Unter den ausländischen Staatsgästen wird auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sein. Medwedew sagte der Zeitung, der "große vaterländische Krieg wurde von unserem Volk gewonnen, nicht von Stalin oder seinen Generälen". Berichten zufolge verhinderte der Kreml Pläne des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, zur Parade Plakate von Stalin in der Hauptstadt aufzuhängen.

Die Bewertung des 1953 gestorbenen Stalin ist in der russischen Öffentlichkeit umstritten. Während die einen ihn vor allem als Bezwinger Nazi-Deutschlands sehen, verweisen Historiker und Menschenrechtsorganisationen auf die Ermordung von Millionen Menschen unter seiner fast drei Jahrzehnte dauernden Herrschaft.

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat am Freitag an die deutsche Verantwortung für Tod, Verwüstung und Vertreibung erinnert. "Dieser Krieg ist von Deutschland angezettelt worden, er hatte entsetzliche Folgen, auch im eigenen Land", sagte der CDU-Politiker in einer kurzen Ansprache im Parlament. "Wir gedenken aller, die ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Angehörigen, ihre Heimat verloren haben." Die Feinde von damals hätten sich aber längst die Hand zur Versöhnung gereicht. Auch Russland sei nach dem Zerfall der Sowjetunion immer mehr zu einem politischen und wirtschaftlichen Partner geworden - auch im gemeinsamen Bemühen um eine neue und dauerhafte Friedensordnung in Europa.

Nach einer Umfrage von stern.de wissen 45 Prozent der Bundesbürger nicht, was am 8. Mai 1945 geschah. Besonders groß ist die Unwissenheit unter den Jüngeren: Mehr als zwei Dritteln der 18- bis 29-Jährigen ist nicht bekannt, dass an dem Tag der Zweite Weltkrieg in Europa beendet wurde.