New York. Ein religiöser Aktivist in Kanada wird von der indischen Regierung als „Terrorist“ bezeichnet - und eines Tages von Unbekannten erschossen. Der Mord an Hardeep Singh Nijjar sorgt nicht nur für Spannungen zwischen Ottawa und Neu Delhi.

Hardeep Singh Nijjar stand an einem Juniabend dieses Jahres vor einem Tempel, als zwei Maskierte das Feuer auf ihn eröffneten. Die Polizei im westkanadischen Surrey nahe der Metropole Vancouver traf kurz nach 20:30 Uhr vor dem Sikh-Gotteshaus ein. Sie fanden den 45-Jährigen mit Schusswunden in seinem Auto. Kurze Zeit später war der religiöse Aktivist tot.

Was damals schon einige in Nijjars Gemeinde vermuteten, bekam am Montag neue Nahrung und internationale Aufmerksamkeit, als der kanadische Premier Justin Trudeau vors Parlament in Ottawa trat und Agenten der indischen Regierung mit dem Fall in Verbindung brachte.

Neu Delhi bezeichnete Nijjar als gefährlichen Terroristen

„In den vergangenen Wochen haben kanadische Sicherheitsbehörden aktiv glaubwürdige Behauptungen über eine mögliche Verbindung zwischen Agenten der indischen Regierung und der Ermordung des kanadischen Staatsbürgers Hardeep Singh Nijjar verfolgt“, sagte Trudeau. Schwere Vorwürfe, die die indische Regierung prompt zurückwies. Doch sie kamen auch nicht ganz überraschend, denn die Führung in Neu Delhi machte nie einen Hehl daraus, dass sie den gebürtigen Inder Nijjar für einen gefährlichen Terroristen hielt.

Grund dafür ist, dass der Mann von der Religionsgemeinschaft der Sikh - die in Kanada mit knapp 800.000 Anhängern die größte Gemeinde außerhalb Indien hat - der sogenannten Khalistan-Bewegung angehörte. Diese setzt sich für ein unabhängiges Land auf dem Staatsgebiet Indiens ein. Indische Behörden hatten ihm lange vorgeworfen, in mehrere Tötungen involviert gewesen zu sein und separatistische Aktivitäten zu finanzieren.

Zudem sei er der Anführer der militanten Gruppe namens „Khalistan Tiger Force“ (KTF), so die Anschuldigungen. Zu einer Anklage in Kanada kam es allerdings nie. Nijjars Anhänger beteuern, dass dieser sich ausschließlich friedlich für seine Ziele einsetzte.

Indien verlangt Auslieferung vermeintlicher Verdächtiger

Zuletzt hatte Nijjar, der der Gemeinde in Surrey als Präsident vorstand und seit vielen Jahren einen kanadischen Pass besaß, Medienberichten zufolge an einem Referendum gearbeitet, dessen Ergebnis keine bindende Wirkung hat. Alle Sikhs in der kanadischen Region British Columbia sollten darüber abstimmen können, ob sie einen eigenen Staat auf indischem Staatsgebiet wollen oder nicht. Was für die kanadischen Behörden technisch gesehen ein verfassungsgemäßer Akt ist, war Indien ein Dorn im Auge.

Die Beziehung mit Ottawa hatte schon seit langem wegen der Khalistan-Bewegung gelitten. Neu Delhi wirft Kanada vor, Separatisten Schutz zu bieten und wenig zu tun, um indische Botschaften und Konsulate vor Angriffen solcher Gruppen zu schützen - größere Vorfälle dieser Art sind aber zumindest öffentlich nicht bekannt. Indien setzte in den vergangenen Tagen trotzdem zunächst die Visavergabe an Kanadier aus und rechtfertigte dies mit Sicherheitsbedenken.

Ein Sprecher des indischen Außenministeriums verlangte am Donnerstag: „Wir möchten, dass die kanadische Regierung Terroristen keinen Unterschlupf gewährt und Maßnahmen gegen diejenigen ergreift, die des Terrors beschuldigt werden und sie hierherschickt, damit sie sich vor Gericht verantworten.“ Mindestens 20 Auslieferungsanträge an Kanada seien in der Vergangenheit unbeantwortet geblieben.

Nichts zu befürchten? Indiens geopolitische Bedeutung wächst

Der Fall Nijjar führte nun zu einem Tiefpunkt der Beziehungen beider Demokratien. Beide Länder wiesen gegenseitig Diplomaten aus. Kanada sieht nichts weniger als seine Souveränität verletzt angesichts von mutmaßlich auf seinem Staatsgebiet operierenden indischen Geheimdienstmitarbeitern. Es scheint dabei sicher, dass Kanada seine Anschuldigungen nicht ohne deutliche Hinweise auf den indischen Geheimdienst erheben würde.

Normalerweise gibt es bei Fällen dieser Art einen Aufschrei unter den Verbündeten der betroffenen Länder. Nicht so bei Nijjar: Auch Washington hält sich auffällig damit zurück, sich mit den Vorwürfen gemein zu machen und die indische Regierung unter Druck zu setzen. Es wird lediglich Besorgnis ausgedrückt und zur Aufarbeitung gemahnt.

Indien profitiert Beobachtern zufolge hier von seiner immer wichtigeren geopolitischen Rolle: Vor allem im Indopazifik spielt Indien mit seinen rund 1,4 Milliarden Einwohnern für die Strategie der USA und der westlichen Partner eine bedeutende Rolle als Gegengewicht zu China. US-Präsident Joe Biden hofierte den indischen Premier Narendra Modi zuletzt bei einem pompösen Staatsbesuch in Washington. Indien, so scheint es, genießt gerade besonderes Wohlwollen bei seinen Partnern - das könnte Modi zum Beispiel auch beim Thema von Menschrechtsverletzungen ermutigen.

Am Freitag stand in Ottawa eigentlich ein anderer Konflikt im Mittelpunkt: der in der Ukraine. Doch selbst beim aufsehenerregenden Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj lässt Trudeau der Mord an Nijjar nicht los. Was Trudeau zu den Vorwürfen aus Indien sage, Kanada habe keine Einzelheiten mit Neu Delhi geteilt? Der Premier entgegnet, man habe seit Wochen versucht, mit den Indern ins Gespräch zu kommen: „Wir hoffen, dass sie mit uns zusammenarbeiten, damit wir dieser sehr ernsten Angelegenheit auf den Grund gehen können.“