Sjewjerodonezk/Kiew. Russische Truppen dringen im Industriegebiet von Sjewjerodonezk vor. Eine Transitbeschränkung verärgert Russland. Der EU-Chefdiplomat glaubt derweil an ein Ende der Getreideblockade. Die Entwicklungen im Ukraine-Krieg.

In der heftig umkämpften Stadt Sjewjerodonezk sollen russische Truppen ukrainischen Angaben zufolge in das Industriegebiet vorgedrungen sein.

Dort werde bereits gekämpft, schrieb der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, in seinem Telegram-Kanal. Ukrainische Truppen kontrollieren demnach nur das Territorium des Chemiewerks Azot. Auch umliegende Ortschaften stünden unter ständigem Beschuss.

Im Krieg gegen die Ukraine konzentrieren sich russische Truppen seit einiger Zeit auf die Einnahme des Verwaltungszentrums Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk. Am Morgen räumten ukrainische behörden den Verlust der Ortschaft Metjolkine südöstlich der Stadt ein.

Im Chemiewerk Azot hielten sich nach Angaben der ukrainischen Vize-Regierungschefin, Iryna Wereschtschuk, zuletzt noch etwa 300 Zivilisten auf. Die Lage ändere sich allerdings ständig, sagte sie nach Angaben der ukrainischen Agentur Ukrinform. Sollten die dort verschanzten Zivilisten den Wunsch äußern, evakuiert zu werden, werde man versuchen, einen Fluchtkorridor einzurichten, so Wereschtschuk den Angaben zufolge. Am Samstag hatte Hajdaj gesagt, die Zivilisten wollten nicht evakuiert werden, es gebe jedoch ständigen Kontakt.

Im Gegensatz zum Stahlwerk Azovstal in Mariupol soll es in Azot kein ausgedehntes Netz an Luftschutzbunkern geben. Die einzelnen Notunterkünfte seien nicht untereinander verbunden, hatte Hajdaj gesagt. In einem Bunkersystem unter dem Stahlwerk Azovstal hatten ukrainische Verteidiger und Zivilisten noch wochenlang ausgeharrt, als Mariupol schon längst von russischen Truppen erobert war.

Krim-Chef: Kiew attackiert Gasförderplattformen im Schwarzen Meer

Die ukrainische Küstenverteidigung hat prorussischen Angaben zufolge schwimmende Gasförderplattformen im Schwarzen Meer mit Raketen angegriffen. Bislang seien 94 Menschen gerettet worden, teilte Krim-Chef Sergej Aksjonow am Montag auf seinem Telegram-Kanal mit. Insgesamt hätten sich auf den Plattformen zuletzt mehr als 100 Menschen aufgehalten. Bei einem von insgesamt drei Angriffen seien mindestens drei Menschen verletzt worden, bei den beiden anderen wohl niemand. Sieben Menschen würden noch vermisst.

Auch der ukrainische Parlamentsabgeordnete Olexij Hontscharenko berichtete von Raketenschlägen gegen die Förderplattformen. Das ukrainische Militär kommentierte den Vorfall zunächst nicht. In Russland wurde nach Angaben der Agentur Tass ein Strafverfahren wegen der Angriffe eröffnet.

Kreml nennt Litauens Transitbeschränkungen nach Kaliningrad "illegal"

Der Kreml hat Litauens Beschränkungen des Bahntransits zwischen der zu Russland gehörenden Ostsee-Exklave Kaliningrad und dem russischen Kernland als "illegal" kritisiert. "Diese Entscheidung ist wirklich beispiellos und stellt eine Verletzung von allem dar", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Litauen hat seit Samstag den Bahntransit von Waren über sein Territorium nach Kaliningrad verboten, die auf westlichen Sanktionslisten stehen. Dies betreffe 40 bis 50 Prozent aller Transitgüter, wie Baumaterialien und Metalle. Peskow sprach von "Elementen einer Blockade".

Ukrainischer Außenminister betont Kampfeswillen

Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba betonte den Kampfeswillen seines Volkes. Die Ukraine würde auch im Falle eines Endes westlicher Waffenlieferungen den Kampf gegen Russland weiterführen. "Wenn wir keine Waffen erhalten, in Ordnung, dann werden wir mit Schaufeln kämpfen, aber wir werden uns verteidigen, denn dieser Krieg ist ein Krieg um unsere Existenz", sagte Kuleba auf Englisch in der ARD-Talksendung "Anne Will" am Sonntagabend.

"Je früher wir also Waffen erhalten, je früher sie gesendet werden, desto größer ist die Hilfe für uns. Wenn Waffen später geschickt werden, werden wir nach wie vor "Danke" sagen, aber dann wird viel verspielt sein, viele Menschen werden gestorben sein."

London: Schwächen russischer Luftwaffe

Die Schwierigkeiten Russlands bei seinem Vormarsch in der Ukraine liegen nach Einschätzung britischer Geheimdienstexperten auch an den Schwächen seiner Luftwaffe. Es sei sehr wahrscheinlich, dass diese einer der wichtigsten Faktoren hinter den sehr begrenzten russischen Erfolgen seien, hieß es am Montag in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums. Die Luftstreitkräfte hätten bisher bei ihren Manövern Risiken eher vermieden und keine Lufthoheit erlangen können. Dies habe den Druck auf die russischen Bodentruppen erhöht, die mittlerweile zunehmend erschöpft seien.

Nach Einschätzung der Briten verfügen die Russen zwar über kampffähige Flugzeuge, sind aber nicht entsprechend für moderne Luftwaffeneinsätze ausgebildet. Die russische Ausbildung bei der Luftwaffe habe sich mutmaßlich jahrelang stärker darauf konzentriert, hochrangige Militärs zu beeindrucken als dynamische Einsatzszenarien verschiedener Truppen zu trainieren, hieß es.

EU-Chefdiplomat rechnet mit Deal zu Getreideexporten aus der Ukraine

Die Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen durch die russische Marine könnte nach Einschätzung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell gelöst werden. "Wir kommen voran und (...) ich bin mir sicher, dass die Vereinten Nationen am Ende eine Einigung erzielen werden", meinte er. Zum Zeitpunkt einer möglichen Einigung sagte Borrell, er könne sich nicht vorstellen, dass es noch viel länger dauern werde. Wenn doch, werde Russland dafür verantwortlich sein. Die Blockade von Getreideexporten sei ein "echtes Kriegsverbrechen".

© dpa-infocom, dpa:220620-99-725976/15