Genf. Es ist der größte humanitäre Spendenaufruf der Vereinten Nationen für ein Land. Das Geld soll Menschen, unter ihnen viele Kinder, vor dem Hungertod bewahren. Ein Hindernis macht Hilfsorganisationen zu schaffen.

Die UN-Hilfe für Afghanistan und Nachbarländer mit afghanischen Flüchtlingen kostet in diesem Jahr mindestens 4,5 Milliarden Euro.

Das sei der größte humanitäre Spendenaufruf, den die Vereinten Nationen je für ein Land verfasst hätten, teilte das UN-Nothilfebüro (OCHA) in Genf mit. So viel Geld brauchen die Vereinten Nationen, um mehr als 27 Millionen Menschen zu helfen. "Ohne Unterstützung drohen Zehntausende Kinder durch Mangelernährung zu sterben, weil die grundlegendsten Gesundheitsdienste zusammengebrochen sind", so OCHA.

Nach UN-Angaben dürften in diesem Jahr 4,7 Millionen Menschen in Afghanistan an schwerer Unterernährung leiden, davon 3,9 Millionen Kinder. 131.000 Kindern drohe ohne zusätzliche Hilfe der Hungertod. "Es zeichnet sich eine riesige humanitäre Katastrophe ab", sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths. Solche Spendenaufrufe richten sich in erster Linie an Regierungen und Stiftungen.

Die Wirtschaft Afghanistans ist nach dem chaotischen Abzug der USA und ihrer Verbündeten und der Machtübernahme durch die militant-islamistischen Taliban im August 2021 eingebrochen. Ausländische Geldgeber stellten Hilfen in Milliardenhöhe ein. Die alte Regierung hatte davor jährlich rund 8,5 Milliarden US-Dollar (rund 7,5 Milliarden Euro) an militärischer und ziviler Hilfe erhalten. Mit diesen Geldern wurden rund 75 Prozent der Staatsausgaben finanziert, darunter etwa das Gesundheits- und Bildungssystem.

"Mütter und Väter verkaufen alles, sogar ihre Organe, damit die Kinder überleben", schrieb die Direktorin von World Vision Afghanistan, Asuntha Charles, nach dem Besuch mehrerer Provinzen. Kleine Kinder müssten sich Krankenhausbetten teilen und stürben an Unterernährung. Eloi Fillion vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) teilte mit, die Zahl der bettelnden Menschen auf den Straßen steige wie nie zuvor. Die Menschen verkauften ihr Hab und Gut und verbrannten Möbel, um sich warm zu halten. Gesundheitsmitarbeiter seien aus ihren Wohnungen geworfen worden, weil sie ihre Miete nicht bezahlen konnten.

Viele Geber befinden sich nun in einem Dilemma. Sie wollen den Taliban nicht helfen, ihr Regime - das Frauen unterdrückt, Menschenrechte missachtet und andere politische Kräfte ausschließt - zu stabilisieren. Die Einstellung der Hilfen und Sanktionen treffen Beobachtern zufolge aber vor allem die Bevölkerung.

Für humanitäre Hilfe im Land selbst benötigen die Vereinten Nationen gut 4,4 Milliarden Dollar (rund 3,9 Mrd Euro). Damit sollen 22 Millionen Menschen unterstützt werden. Es geht um Nahrungsmittelhilfe, Unterstützung von Bauern, Gesundheitsdienste, Notunterkünfte, Versorgung mit sauberem Wasser und Schulen. Zudem sollen 5,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen sowie ihre Gastgeber in fünf Nachbarländern unterstützt werden. Dazu gehören der Iran und Pakistan. Dafür sind 623 Millionen Dollar nötig (550 Mio Euro).

Da kein Geld direkt an die Taliban gehen soll, kommen Hilfsorganisationen eine immer wichtigere Rolle zu. Der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) warnte vor Schwierigkeiten bei der Umsetzung von UN-Hilfen. Geld bereitzustellen helfe wenig, wenn "die Außenwelt und die Taliban-Regierung nicht schnell daran arbeiten sicherzustellen, dass Bargeld im Land verfügbar ist", sagte NRC-Chef Jan Egeland.

Hilfsorganisationen haben massive Schwierigkeiten, Geld nach Afghanistan zu bringen. Mit der Taliban-Machtübernahme wurden internationale Überweisungen in das Land über das Swift-System ausgesetzt. Auch im Ausland geparkte Reserven der afghanischen Zentralbank in Milliardenhöhe wurden eingefroren und somit regelmäßige Bargeldlieferungen in das Land eingestellt. Bargeldbehebungen wurden in der Folge massiv eingeschränkt. Ende Dezember beschlossen die UN und die USA angesichts der sich zuspitzenden humanitären Krise Ausnahmen vom Sanktionsregime.

Vom NRC hieß es, man könne derzeit weiter keinen normalen Transfer des Geldes in das Land veranlassen. Die jüngste Überweisung über das Hawala-System sei gestoppt worden, da eine Untersuchung wegen "Terrorismusrisikos" anhängig sei. Bei diesem Hawala-System werden Kreditinstitute umgangen, indem einem Händler in einem Land Bargeld übergeben wird, das ein anderer Händler dann in Afghanistan auszahlt. Die UN hätten nun einen Einmaltransfer über sie in Aussicht gestellt, so das NCR. Die Suche nach einer sicheren, dauerhaften Lösung dauere an.

Die Spendenaufrufe für Afghanistan gehörten 2021 zu den erfolgreichsten im UN-System. Der ursprüngliche errechnete Bedarf in Höhe von knapp 870 Millionen Dollar wurde zu rund 88 Prozent gedeckt. Ein zusätzlicher Spendenaufruf für Nothilfe in Höhe von 606,3 Millionen Dollar wurde sogar deutlich übertroffen, mit insgesamt 823 Millionen Dollar. Dagegen ging bei einigen UN-Spendenaufrufen für Burundi und die Demokratische Republik Kongo weniger als zehn Prozent der nötigen Summe ein. Weltweit stellen die UN sich in diesem Jahr auf 274 Millionen Bedürftige ein, nach 250 Millionen 2021.

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