Minsk. Der elfte Protestsonntag in Serie hat für die Demokratiebewegung in Belarus (Weißrussland) eine besondere Bedeutung: Ein Ultimatum an Machthaber Lukaschenko läuft aus. Der 66-Jährige selbst muss auch eine Schlappe hinnehmen.

Ungeachtet eines massiven Polizei- und Militäraufgebots haben mehr als 100.000 Menschen den elften Sonntag in Serie in Belarus gegen Machthaber Alexander Lukaschenko protestiert.

Nach weitgehendem friedlichem Verlauf setzte die Polizei am Abend in Minsk Blend- und Lärmgranaten gegen Demonstranten ein. Augenzeugen berichteten im Nachrichtenkanal Telegram von mehreren Verletzten. Das Innenministerium bestätigte den Einsatz der Spezialmittel gegen "gewaltbereite Demonstranten". Sie sollen zuvor eine Absperrung durchbrochen haben. Auf Videos waren Schuss- und Explosionsgeräusche zu hören sowie Blitzlichtgewitter zu sehen. Die Erschütterungen lösten in dem betroffenen Viertel Alarmanlagen an vielen Autos aus.

Auch in mehreren anderen Städten gab es Proteste. Das Menschenrechtszentrum Wesna berichtete von mehr als 200 Festnahmen. In Minsk strömten die Menschen aus verschiedenen Richtungen im Zentrum von Minsk zur "Stele", einem Platz zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. "Lang lebe Belarus!", skandierten sie dabei. Viele trugen die historische weiß-rot-weiße Fahne, wie das oppositionelle Internetportal Strana dlja Schisni (Ein Land zum Leben) zeigte. Eine Flagge wurde auf einer Laterne gehisst.

In der Stadt Lida bestätigten die Behörden den Einsatz von Tränengas. Hundertschaften von Polizei und Militär hatten das Zentrum der Hauptstadt Minsk abgeriegelt. Bewaffnete Uniformierte mit Sturmhauben bezogen unter anderem an der Straße Prospekt der Sieger und am Unabhängigkeitsprospekt Stellung, um die Sonntagsdemonstration zu verhindern.

Die Behörden sperrten sämtliche Metrostationen im Zentrum, um den Zustrom von Menschen aus den Stadtteilen zu verhindern. Sie schalteten auch das mobile Hochgeschwindigkeitsinternet ab, damit sich die Menschen nicht zu Protesten verabreden können.

Seit der umstrittenen Präsidentenwahl am 9. August kommt es in der Ex-Sowjetrepublik immer wieder zu Protesten, weil sich Lukaschenko nach 26 Jahren an der Macht mit rund 80 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären ließ. Die Demokratiebewegung beansprucht den Sieg für die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja. Die EU unterstützt Lukaschenkos Gegner und erkennt den langjährigen Machthaber nicht mehr als Präsidenten an. Unterstützung erhält der 66-Jährige aus Russland.

"Heute ist ein besonderer Tag", sagte Tichanowskaja in ihrem Exil in der EU in einer Live-Schalte. Am Sonntag lief ihr Volks-Ultimatum an Lukaschenko aus. Die Demokratiebewegung fordert ein Ende der Polizeigewalt, die Freilassung aller politischen Gefangenen und eine Neuwahl ohne Lukaschenko.

Zwar wurden einige Oppositionelle aus dem Gefängnis entlassen, mehr Entgegenkommen ist aber nicht in Sicht. Deshalb rief Tichanowskaja mit Nachdruck dazu auf, sich an diesem Montag an einem landesweiten Generalstreik zu beteiligen oder einfach zu Hause zu bleiben. "Der Weg wird nicht leicht sein." Der Kampf gegen Lukaschenko brauche Kraft und Ausdauer, betonte sie. Den Angestellten im öffentlichen Dienst wird immer wieder ganz offen mit Kündigung gedroht, wenn sie sich gegen Lukaschenko stellen. Analysten bezweifeln, dass Tichanowskaja wegen ihres Aufenthalts im Ausland viel bewegen kann.

Die Gegner des Machtapparats sehen sich aber nicht zuletzt beflügelt durch die Zuerkennung des Sacharow-Menschenrechtspreises des EU-Parlaments am vergangenen Donnerstag. Bei einem überraschenden Anruf bei Lukaschenko am Samstag forderte US-Außenminister Mike Pompeo die Freilassung politischer Gefangener, darunter ein US-Staatsbürger. Zugleich betonte er, dass die USA die Demokratiebewegung unterstützten. Die US-Botschaft in Minsk veröffentlichte angesichts der Polizeigewalt eine Sicherheitswarnung.

Für Erheiterung in belarussischen Oppositionskreisen sorgte eine Initiative des Machtapparats - wie bereits mehrfach geschehen -, Unterstützer Lukaschenkos zu Tausenden mit Bussen und Sonderzügen und auf Kosten des Steuerzahlers in die Hauptstadt zu bringen. Lukaschenko musste die Aktion letztlich absagen. Er sagte, der erwartete Zulauf mit 200.000 bis 300.000 Menschen in Minsk sei so groß, dass der Hauptstadt ein Verkehrskollaps drohe.

Der wahre Grund für die Absage war nach Berichten unabhängiger Medien aber eine massenhafte Weigerung der Menschen, nach Minsk zu reisen. Demnach weigerten sich auch Busfahrer. Viele beriefen sich auch auf die Gefahr durch das Coronavirus.

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