Jerusalem/Ramallah. Zwischen Mittelmeer und Jordan brodelt es mehr denn je. Begegnungen im Heiligen Land – in dem beide Seiten immer radikaler werden.

Als der Pförtner das zweite Mal anruft, weiß Lizzie Doron: Das ist jetzt ein grundsätzliches Missverständnis. Nein, ihr Besucher aus dem Auto mit dem palästinensischen Kennzeichen in der Tiefgarage ist wirklich kein Klempner. Das hatte sie doch schon beim ersten Anruf gesagt. Er ist ein Gast. Mit den Sanitäranlagen in ihrem Apartment ist alles okay. Aber vielleicht, sagt der Pförtner, kann er ja die Klospülung beim Nachbarn reparieren. Da platzt es aus Lizzie Doron heraus. „Er ist überhaupt kein Handwerker, er ist Professor. Und wir arbeiten gerade daran, das Abkommen von Oslo zu renovieren.“

Die israelische Bestsellerautorin Lizzie Doron erzählt diese Anekdote locker, aber mit wachsender Entgeisterung. Es ist alles andere als Dummheit, dass der Pförtner in ihrem schicken Wohnblock partout nicht verstehen will, warum ein Palästinenser zu einer israelischen Familie kommt und keine einfachen Arbeiten verrichtet. Die Sache liegt tiefer. Das Unverständnis ist beiderseitig. Es ist allgegenwärtig. Und nirgendwo in Israel oder in den Palästinensergebieten hat man den Eindruck, dass es sich je bessert.

"Schreib lieber was über den Holocaust"

Dorons Bestseller „Who the fuck is Kafka“ legt den Finger in die tiefste Wunde des Nahen Ostens, den jüdisch-palästinensischen Konflikt. In Israel ist das Buch nicht erschienen. Ihr Verleger sagte zu ihr: „Verkauft sich nicht so gut. Schreib lieber mal wieder was über den Holocaust.“

Im Video: Lizzie Doron

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Lizzie Doron ist die einzige Tochter einer Überlebenden der Shoa. Ihre Bücher über die innerfamiliären Aufarbeitungen der Ermordung von sechs Millionen Juden und der Traumatisierung der Israel-Einwanderer nach der Staatsgründung 1948 wühlten das Land auf.

Lähmende Fassungslosigkeit auch auf der anderen Seite dieses Grabens: Im Westjordanland, im Gazastreifen, in den palästinensischen Dörfern radikalisieren sich die Menschen. Sie fühlen sich unterdrückt von der vermeintlichen Besatzungsmacht. Abgehängt vom wirtschaftlichen Erfolg andernorts. „Auch hier wollen die Jugendlichen zur Uni gehen, einen Job und ein i-Phone“, sagt ein palästinensischer Journalist in Ramallah, der nicht genannt werden darf.

Hier hat das Palestinian Center for Policy and Survey Research herausgefunden, dass zwei von drei Palästinensern insgesamt glauben: Nur Gewalt ist die Lösung, um die Besatzung zu beenden. Bei den Jugendlichen unterstützen sogar fast acht von zehn diese These. Prof. Khalil Shikaki präsentiert die Zahlen nüchtern. Er hat an der Columbia in New York gelehrt, ist einer der renommiertesten palästinensischen Sozialforscher.

Hunderte Tote durch die "Mini-Intifada"

Prof. Shikaki kennt die Radikalisierung aus eigener Anschauung. Er stammt aus einer Flüchtlingsfamilie mit acht Kindern aus dem südlichen Gazastreifen. Sein Bruder, später berüchtigt als Fathi Shakaki, wurde Arzt und gründete den radikalen Islamischen Dschihad in Palästina. Ein Kommando des israelischen Geheimdienstes Mossad tötete ihn 1995 in einer gezielten Aktion auf Malta.

Überdurchschnittlich viele Jugendliche waren Haupttäter bei der sogenannten „Mini-Intifada“, der „Messer-Intifada“. Fast wahllos griffen sie seit Mitte 2015 israelische Soldaten oder auch Passanten an und stachen zu. Viele Angreifer wurden an Ort und Stelle erschossen. Insgesamt starben bei Attacken dieser Art in mehr als einem Jahr fast 40 Israelis und rund 250 Palästinenser.

Im Februar hat man in der Nähe einer israelischen Siedlung eine Zwölfjährige aus dem Westjordanland mit einem Messer verhaftet. Ein Militärgericht verurteilte sie wegen Mordversuchs. Das Mädchen wurde nach einigen Monaten in Haft freigelassen.

Eine dieser wahllosen Attacken traf im Mai in der Jerusalemer Altstadt eine 86 Jahre alte Holocaust-Überlebende. Sie kam trotz drei Stichwunden mit dem Leben davon. Den Nazis, dem KZ entkommen – von einem fanatischen Palästinenser attackiert. Wahnsinn, wenn man darüber nachdenkt.

Atmosphäre angespannt: US-Präsident Barack Obama und Israels Premier Benjamin Netanjahu
Atmosphäre angespannt: US-Präsident Barack Obama und Israels Premier Benjamin Netanjahu © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Drew Angerer / Pool

Fälle wie dieser treiben die Israelis verständlicherweise zur Weißglut. Und nun gibt es eine Uno-Resolution gegen jüdische Siedlungen in den besetzten Gebieten. Nicht einmal US-Präsident Barack Obama hat das verhindert. Da erscheint selbst moderaten Israelis der künftige starke Mann im Weißen Haus, Donald Trump, beinahe als letzter Vernünftiger. Trump will unter anderem den mühsam erlangten Iran-Atom-Deal revidieren. Er twitterte: „Die Uno ist nur ein Club.“

Donald Trump bei Twitter: Spott über die Uno

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Kein bisschen Frieden im Heiligen Land. Symptom für eine chronisch kranke Entwicklung: Die Zahl der Moderaten in Israel nimmt immer weiter ab. 36 Prozent der jüdischen Bevölkerung würde nicht neben einer arabischen Familie leben wollen. Fast jeder Zweite lehnt nach dieser Umfrage des Israel Democracy Institute ausländische Nachbarn ab. Strengreligiöse und beinharte Rechtsausleger stützen die Koalitionsregierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Er ist für viele längst der „ewige Bibi“. Die Publizistin Anita Haviv – in Wien geboren, nach Israel ausgewandert – meint: „Viele Israelis sagen vor der Wahl: Die Regierung ist eine Katastrophe! Wen sollen wir nur wählen?“ Am Ende komme doch wieder Netanjahu heraus. Die Mitte der Gesellschaft dünnt aus, radikale Meinungen werden mehrheitsfähig.

Israelische Ministerinnen wegretuschiert

In einer Zeitung der Orthodoxen wurden auf dem offiziellen Kabinettsfoto nach der Wahl 2015 die Frauen wegretuschiert. Sie gehören zur Regierung, aber nicht zum Weltbild. Die von der Lebenswirklichkeit entrückten Ultraorthodoxen verachten den Staat. Nur jeder Zweite von ihnen arbeitet überhaupt. Ihre Frauen verdienen zumeist das Geld und versorgen die häufig große Kinderschar. Ultraorthodoxe sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Sie machen heute etwa zehn Prozent der Israelis aus.

Das israelische Kabinett mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (r.) und dasselbe Kabinett auf einem Foto einer ultraorthodoxen Zeitschrift, die die Ministerinnen wegretuschiert hat
Das israelische Kabinett mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (r.) und dasselbe Kabinett auf einem Foto einer ultraorthodoxen Zeitschrift, die die Ministerinnen wegretuschiert hat © HA

In diesem Jahr haben laut der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ 52 ehemalige streng religiöse Juden den Staat Israel wegen mangelhafter Schulbildung sogar verklagt. Bei ihrer Erziehung an religiösen Schulen hätten sie Mathematik und Englisch vernachlässigt und deshalb Probleme bei der Jobsuche gehabt. Sollten sie damit durchkommen, will die Regierung die Eltern zum Schadenersatz heranziehen.

19-jähriger Soldat erschoss regungslosen Attentäter

Als in einem aufsehenerregenden Fall am 24. März in Hebron zwei Palästinenser einen israelischen Soldaten attackierten, wurden sie niedergeschossen. In einem Youtube-Video der Menschenrechtsorganisation Betselem ist zu sehen, wie ein weiterer Soldat namens Elor Azaria an einen der beiden regungslos daliegenden Attentäter herantritt und ihn mit einem Kopfschuss tötet. Die Anklage vor dem Militärgericht lautet Totschlag, nicht Mord. Vier von fünf Israelis sagten in einer Umfrage, der Soldat habe richtig gehandelt.

Elor Azaria mit seinem Vater Charlie im Militärgericht in Tel Aviv
Elor Azaria mit seinem Vater Charlie im Militärgericht in Tel Aviv © picture alliance / dpa | Stefanie Järkel

Es gab Demonstrationen für den 19 Jahre jungen Soldaten, Online-Petitionen für einen Orden und vieles mehr. Ministerpräsident Netanjahu telefonierte mit Azarias Vater und sagte: „Als Vater eines Soldaten verstehe ich deine Verzweiflung.“ Der damalige Verteidigungsminister Mosche Jaalon, früher selbst General, sprach von einem „verdorbenen“ Soldaten. Azaria habe gegen die Vorschriften verstoßen. Das Urteil soll Anfang 2017 fallen.

Zwei-Staaten-Lösung: Eine Verheißung aus dem Niemalsland

Auch dieser Zwischenfall spaltet das Land und sät weiter Zwietracht zwischen Juden und Muslimen in der Vielvölkerregion. Und aus gutem Grund höhnen die Israelis über die Palästinenser, die selbst tief gespalten sind und seit zehn Jahren keine Parlamentswahl abgehalten haben. Von einer Staatsgründung ist das Volk von Präsident Mahmud Abbas so weit entfernt wie die moderate Fatah und die radikale Hamas von einer Einigung.

Muslimische Pilger auf dem Tempelberg
Muslimische Pilger auf dem Tempelberg © picture alliance / dpa | Alaa Badarneh

„Zwei-Staaten-Lösung“, dieses immer bemühte Ziel, klingt zwischen Mittelmeer und Jordan wie eine Verheißung aus dem Niemalsland. Das Beständigste ist doch das Provisorium.

Panama Papers: Abbas junior hinterzieht Steuern

Die Autonomiebehörde findet nur noch bei jedem Dritten Zustimmung, hat Prof. Shikaki ermittelt. Die jungen Leute denken radikaler, wollen raus aus Gaza, raus aus der Enge der von Israelis umzingelten Dörfer zwischen Hebron und Dschenin. Präsident Abbas, 81, ist schwer krank. Sein Sohn hat schon die Schäfchen ins Trockene gebracht, wie die Panama Papers zeigten. Abbas Junior hat einträgliche Kontakte zur Steuervermeidungskanzlei Mossack Fonseca, berichtete die Tageszeitung „Haaretz“. Die Wasser- und Energieversorgung hakt, die Wirtschaft liegt darnieder, die politischen Führer sind zerstritten und korrupt: Die Palästinenser haben das Vertrauen in ihre Institutionen verloren.

"Lügenpresse": Auch in Israel werden die Medien diffamiert

Auch die streitlustigen Israelis hinterfragen ihre demokratischen Errungenschaften. So gibt es plötzlich eine Diskussion über das, was man in Deutschland als „Lügenpresse“ diffamiert. Aus „Tikshoret“ (Kommunikation) wird dann durch einen Buchstabendreher „Tishkoret“ : Lügner. Die professionelle Ausgewogenheit der etablierten Zeitungen „Haaretz“, „Jedi‘ot Acharonot“ oder der „Jerusalem Post“ ist für viele Israelis nicht patriotisch genug. Bei Facebook und Twitter ist immer Platz für extreme Medienschelte. Dieses Sirenengeheul schwillt weiter an.

Und es gibt natürlich einen Militärzensor, sagt der preisgekrönte „Haaretz“-Korrespondent Amir Oren. Alles, was in der Berichterstattung die Streitkräfte oder die Sicherheit betrifft, muss vorgelegt werden. Auch in den TV-Sendern werden Fernsehbeiträge mit militärischen Inhalten zensiert, zumeist von aktiven Brigadegenerälen. Sogar der international bekannte Journalist Ari Shavit legte für seinen jüngsten Bestseller die Passagen zur Geschichte der israelischen Atomwaffen dem Zensor vor.

Ein Jahr Haft für Facebook-Post zu Abbas

Und die palästinensischen Medien? Kein Journalist aus Ramallah könnte offen darüber reden. Die Angst vor Repressionen ist groß. Einige beschweren sich über die Hindernisse, die sie überwinden müssen, wenn sie aus Israel berichten wollen. Da sind nicht nur die Checkpoints, Mauern und Zäune zwischen dem Westjordanland und Jerusalem. Sie würden von den Israelis behindert und bei Demonstrationen mitunter von Soldaten attackiert, heißt es. Allerdings hätten sie gerne ebenfalls einen Zensor! „Dann wüssten wir bei den palästinensischen Behörden immerhin, wo die rote Linie ist“, sagt ein Agentur-Reporter aus Ramallah.

Ein Kollege postete bei Facebook ein Foto nach einem Besuch von Präsident Abbas bei Real Madrid, das diesen im Trikot des spanischen Rekord-Clubs zeigte. „Neuzugang“ schrieb er darunter. Es war freundlich gemeint und brachte dem Journalisten eine Verurteilung zu einem Jahr Haft ein.

Video: Mahmud Abbas bei Real Madrid

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Die Autorin Lizzie Doron entflieht bisweilen der politisch aufgeheizten Atmosphäre ihrer Heimat. Ausgerechnet in Deutschland, dem Land der NS-Mörder, stieß sie immer auf viel Verständnis. Doron ist eigentlich Sprachforscherin und befasste sich in einer frühen Arbeit mit den „narrativen Fähigkeiten schizophrener Patienten“, bevor sie ins rein schriftstellerische Fach wechselte. Was Verrückte so reden.

Die Schriftstellerin Lizzie Doron
Die Schriftstellerin Lizzie Doron © picture alliance / Ulrich Baumga | Ulrich Baumgarten

Publizistin Anita Haviv: "In Israel fühle ich mich am sichersten"

Die Publizistin Anita Haviv sagt angesichts der Kriege in der Region und der massiven terroristischen Gefahren für ihr Land über die israelische Seele: „Wir sind vielleicht paranoid – aber verfolgt werden wir doch!“ Für sie ist aber klar: „In Israel fühle ich mich am sichersten.“ Nach den Anschlägen in Paris, bei denen sich herausstellte, dass der Club Bataclan auch wegen seiner Verbindungen zu jüdischen Organisationen als Ziel ausgewählt worden war, bot Netanjahu den französischen Juden an, nach Israel zu kommen.

Der schonungslose Berichterstatter Ari Shavit recherchierte jahrelang über die Geschichte des Judenstaates, seines Landes, schrieb tiefgründigste Gedanken in geschliffenen Formulierungen nieder. Fast 600 Seiten hat sein jüngster Bestseller, viele triefen vor Blut. Er kam nicht umhin, dem Buch diesen emotionalen Titel zu geben: „Mein gelobtes Land“.

Einige der Interviews und Recherchen für diesen Text wurden auf einer Reise der Bundeszentrale für politische Bildung durch Israel und die Palästinensergebiete geführt.