Istanbul. Der türkische Staatspräsident Erdogan warnt die Europäische Union direkt: „Wenn ihr zu weit geht, dann werden die Grenzen geöffnet“.

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan verschärft seine Gangart gegenüber der Europäischen Union. Einen Tag, nachdem sich das Europäische Parlament in einer Resolution dafür aussprach, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren, kontert Erdogan mit der Drohung, Millionen Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Die EU versucht abzuwiegeln: zu „hypothetischen Szenarien“ äußere man sich nicht, sagte ein Sprecher der Brüsseler Kommission.

Auch wenn Erdogan die Abstimmung im Europaparlament schon vorab als „bedeutungslos“ abtat: Irgendwie scheint ihn die Resolution doch getroffen zu haben. Anders ist jedenfalls seine wutentbrannte Reaktion kaum zu erklären: „Hört mir gut zu“, rief Erdogan am Freitag an die Adresse der EU: „Wenn ihr zu weit geht, dann werden die Grenzen geöffnet, merkt Euch das!“ Die EU habe niemals ehrliche Humanität an den Tag gelegt oder die Menschen fair behandelt, donnerte Erdogan.

Nicht die erste Drohung

„Wir sind es, die 3,5 Millionen Flüchtlinge in diesem Land ernähren“, so Erdogan. Die Türkei hat seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Syrien 2011 etwa 2,7 Millionen Flüchtlinge von dort sowie weitere 300.000 Schutzsuchende aus dem Irak aufgenommen. Rund 285.000 syrische Flüchtlinge leben in staatlich organisierten Lagern, die große Mehrzahl schlägt sich irgendwo im Land selbst durch.

Erdogan droht nicht zum ersten Mal damit, Europa mit Flüchtlingen zu überschwemmen. Bereits im November 2015 warnte er im Gespräch mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk am Rande des G20-Gipfels in Antalya: „Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen.“

Niemand sollte Türkei unterschätzen

Im Februar 2016 wiederholte Erdogan seine Drohung: Die Türkei könne die Flüchtlinge in Länder schicken, „aus denen gute Ratschläge kommen“. Niemand solle meinen, die Türkei verfüge umsonst über Flugzeuge und Busse.

Das Flüchtlingsabkommen sieht vor, dass die Türkei illegal nach Griechenland kommende Flüchtlinge zurücknimmt. Im Gegenzug darf für jeden zurückgeschickten Flüchtling ein anderer Syrer aus der Türkei legal in die EU einreisen. Weil sich die Asylverfahren in Griechenland hinziehen, wurden bisher allerdings erst 721 Menschen in die Türkei abgeschoben.

Öffnet Erdogan die Schleusen, droht eine humanitäre Katastrophe

Aus europäischer Sicht hat sich das Abkommen dennoch bewährt. Kamen 2015 an manchen Tagen Tausende Menschen auf den griechischen Inseln an, sind es jetzt im Schnitt weniger als 100 täglich. Der Rückgang ist auf schärfere Kontrollen an der türkischen Küste, aber auch auf die Schließung der Balkanroute zurückzuführen. Sollte Erdogan jetzt tatsächlich den Schleusern wieder freie Hand geben und Hunderttausende Flüchtlinge zu den griechischen Inseln schicken, droht dort eine beispiellose humanitäre Katastrophe.

In der EU hofft man deshalb, dass Erdogan seine Drohung nicht wahr macht – und versucht zu beschwichtigen. „Wir arbeiten für den Erfolg des Flüchtlingsabkommens“, kommentierte ein Kommissionssprecher in Brüssel. Ähnlich Berlin: „Drohungen auf beiden Seiten helfen nicht weiter“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer in Berlin, „wo es Schwierigkeiten gibt, müssen wir die ausräumen.“ Deutschland sehe das Flüchtlingsabkommen als „gemeinsamen Erfolg“. Die Fortsetzung der Vereinbarung liege „im Interesse aller Beteiligten“. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amts unterstrich, Deutschland habe „großes Interesse“ an einem „europäischen Weg“ der Türkei.