Rom. Die erste weibliche Bürgermeisterin Roms sorgt mit ihrem Wahlsieg für einen politischen Erdrutsch. Darüber ist sie sich selbst bewusst.

Der Blick, den Virginia Raggi zukünftig aus ihrem neuen, dem „schönsten Büro der Welt“ haben wird, ist himmlisch: Unten liegen die antiken römischen Foren, weiter hinten das Kolosseum, am Horizont vor dem azurblauen Himmel die Berge. Doch die 37-jährige Politikerin wird nicht viel Zeit haben, den Ausblick auf die vor 2769 Jahren gegründete Stadt zu genießen. Virginia Raggi muss Rom jetzt regieren. Seit der Nacht von Sonntag auf Montag ist sie die erste weibliche Bürgermeisterin der Stadt. Das allein ist eine kleine Sensation.

Sie selbst kommentierte ihre Wahl mit den Worten: „Eine neue Ära ist angebrochen“. Und: „Wir sind dabei Geschichte zu schreiben“. Doch auf Virginia Raggi wartet eine Herkulesaufgabe, ein 24-Stunden-Job. Nach Jahren der Klientelwirtschaft und Korruption in Verwaltung und Stadtpolitik ähnelt Rom an vielen Ecken einem Inferno, wo Müllberge wachsen und Millionen Ratten wuseln, öffentliche Verkehrsmittel brachliegen und die Mafia in den Außenbezirken regiert.

Raggi argumentiert wie eine Vorzeigestudentin

Die zierliche Frau mit der leisen Stimme trägt ihre Argumente artig wie eine Vorzeigestudentin vor und schreit sie nicht heraus wie viele andere Kollegen. Im Wahlkampf hat sie bereits gezeigt, dass sie keine Angst vor harten Lokalpolitikern, vor starken Lobbys und Kriminellen hat. Ihre Gegner hatten mit allen Mitteln versucht, ihr den Erfolg abzugraben. Zuletzt mit einer Internetkampagne, die sie zur Lügnerin abstempelte: Sie habe als Anwältin der Hafenstadt Civitavecchia assistiert, dies aber nicht deklariert, als sie schon im Stadtparlament saß. Oder sie habe in ihrem Lebenslauf die Referendarzeit in der Kanzlei des umstrittenen Berlusconi-Anwalts Cesare Previti unterschlagen. Doch hinter den Kampagnen standen oft die Medien, die die Interessen der alten, römischen Lobby repräsentieren: Etwa die Lokalzeitung „Il Messaggero“, die mächtigen Bauunternehmern gehört. Deren Appetit auf die Bewerbung zu den Olympischen Spielen hatte Raggi zunichtegemacht.

Kleine Makel, die die römischen Wähler nicht aufhalten konnten. In der Stichwahl am Sonntag stach Raggi ihren Konkurrenten, den Sozialdemokraten Roberto Giachetti glatt aus, überlag mit knappen 70 Prozent haushoch.

Römische Verhältnisse auch in Turin

Und in Virginia Raggis Sog, der sich bereits nach ihrem Vorsprung im ersten Wahlgang am 5. Juni abzeichnete, gelang auch der Fünf-Sterne-Kandidatin in der norditalienischen Metropole Turin, der erst 32-jährigen Chiara Appendino, ein ähnliches Wahlkunststück. Sie lag vor dem bisherigen sozialdemokratischen Stadtvater Piero Fassino.

Für den italienischen Premier Matteo Renzi wurden die Kommunalwahlen zu einem Debakel. Mit der Wahl der zwei Fünf-Sterne-Frauen haben die Italiener ihm eine Absage erteilt. Renzi, der auch Sekretär der italienischen Sozialdemokraten ist, hatte es nicht geschafft, die Partei nachhaltig zu reformieren und neue Kandidaten hervorzubringen. Nur in Mailand schaffte es ein Renzi-Kandidat, der ehemalige Expo-Chef Giuseppe Sala, ganz knapp.

Aus einer Bewegung wird eine Partei

Der erst 40 Jahre alte Premier, der angetreten war, um das politische Establishment zu „verschrotten“, riskiert nun selbst unter die Räder zu kommen. Die Italiener sind nach dem anfänglichen Reformprogramm enttäuscht von den Ergebnissen auf dem Arbeitsmarkt, in der Konjunktur, Bürokratie, im Schul- und Gesundheitssystem.

Mit dem Ausgang der Kommunalwahlen aber etabliert sich die Fünf-Sterne-Bewegung als Regierungspartei. Deren Anhänger gelten offen als Europa- und teilweise auch einwanderungsfeindlich. In Rom wurde die Kandidatur auch vom Chef der norditalienischen Liga Nord unterstützt.

Parteichef sieht erst den Anfang

Fünf-Sterne-Chef Beppe Grillo feierte den Erfolg, sagte das sei „nur der Anfang“. Doch die neue Bürgermeisterin, die auch Mutter eines sechsjährigen Sohnes ist und als Stadtteilpolitikerin erst vor fünf Jahren anfing, braucht den Politclown als Ziehvater nicht. Das hat sie oft erklärt und jetzt gezeigt. Sie will es jetzt es mit dem Behördenwasserkopf von 50.000 Angestellten aufnehmen, mit eingefleischter Klientelwirtschaft, korrupten Stadtpolizisten und Mafiabanden. Dafür setzt sie auf mehr Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Gelder. Zudem will sie eine „Task Force“ einsetzen, das Verkehrssystem revolutionieren, mehr Fahrradwege bauen, neue Bahnen und Busse kaufen. Das Müllproblem soll durch Recycling weichen. Zudem hat sie angekündigt, in den Sinti- und Rom-Lagern aufzuräumen und den Wuchermieten einen
Deckel aufzusetzen.

Einziger Makel: Nie hat sie allerdings verraten, wie das alles finanziert werden soll. Schon ihr Vorgänger Ignazio Marino war daran gescheitert, obwohl er als Sozialdemokrat eigentlich die Gunst des Premiers haben musste. Doch Renzi kehrte ihm den Rücken zu. Mit Virginia Raggi wird er nicht milder umgehen. Doch das Vertrauen der Wähler hat sie, dass sie die schweren Aufgaben mit eisernem Willen angehen wird.

Nur einer bedauert den Wahlsieg sehr: „Du fehlst mir schon jetzt so sehr“, schrieb ihr Ehemann noch in der Nacht in einem Brief an Signora Raggi.