London. Nach dem Mord an der Politikerin Jo Cox geht der Brexit-Wahlkampf weiter. Verschiedene Umfragen sehen die Gegner des Austritts vorne.

Die Zeit des Innehaltens ist vorbei. Am Sonntag bog der Wahlkampf um Austritt oder Verbleib der Briten in der Europäischen Union auf die Zielgerade. Die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox am vergangenen Donnerstag hatte die Briten im Schock geeint. Jetzt sind sie wieder erbitterte Gegner. Der Premierminister David Cameron warnte vehement vor den Folgen eines Brexits in einem Interview mit der Sonntagszeitung „Sunday Times“, während der Justizminister Michael Gove, der für „Vote Leave“ und den Austritt wirbt, die Gefahren eines türkischen Beitritts zur EU beschwor.

Mit dem gewaltsamen Tod von Jo Cox verlor das Lager der Eurofreunde eine ganz wichtige Stimme. Und doch scheint ihnen der Verlust Auftrieb zu geben. Zahlreiche Umfragen zeigen, dass die EU-Freunde zulegen. Am stärksten war der Ausschlag bei einer Blitzumfrage im Auftrag der „Mail on Sunday“. Dabei gaben 45 Prozent der Briten an sie würden am Donnerstag für den Verbleib ihres Landes in der EU stimmen. 42 Prozent wollen einen Austritt.

Cameron warnt vor unwiderruflicher Entscheidung

David Cameron griff am Sonntag die Stimmung auf und seine Gegenspieler im Brexit-Lager – den früheren Bürgermeister von London Boris Johnson und Michael Gove – scharf an. Sie seien verantwortlich für Behauptungen auf „Vote Leave“-Flugblättern, „die völlig unwahr sind“. Dazu würden Statements gehören, dass die Türkei bald der EU beiträte, dass Großbritannien „350 Millionen Pfund pro Woche an die EU zahle“ oder dass es eine europäische Armee geben werde, der das Land beitreten müsse. Wenn sich die Bürger, entrüstete sich Cameron, für einen Austritt entscheiden würden „aufgrund von drei Argumenten, die nicht wahr sind, dann wäre das ein ziemlich hoffnungsloses Ergebnis“.

Zugleich warnte der Premier, dass eine Entscheidung für den Brexit unwiderruflich sei. Er schloss aus, dass es nach einem Austritt Großbritanniens in Zukunft zu einer erneuten Mitgliedschaft kommen könnte. „Wenn man einmal aus dem Flugzeug gesprungen ist, kann man nicht wieder durch die Tür zurückklettern“, sagte er. „Man könnte nur dann wieder zurückkommen, wenn man dem Euro und dem Schengenraum beiträte“ und „unseren Rabatt aufgeben“ würde. Niemand würde das jemals wünschen wollen.“

Cameron sparte auch nicht mit direkter Kritik an Johnson und Gove, die die vielfältigen Brexit-Warnungen von Experten als „Panikmache“ bezeichnet und lächerlich gemacht haben. Er verglich sie mit unverantwortlichen Eltern: „Wenn man mit der Familie im Wagen über die Autobahn düsen will und der Automechaniker sagt einem, dass die Bremsen schadhaft sind und der Tank leckt und man nicht einsteigen soll, dann steigt man auch nicht ein. Würden Sie das Risiko eingehen? Natürlich nicht.“

Umfragen drehen sich

Für Boris Johnson, die Galionsfigur der „Vote Leave“-Kampagne, war der Wiedereinstieg in den Wahlkampf ein unglücklicher Tag, nicht nur weil sich die Stimmung zu drehen scheint. Er schrieb am Sonntag einen Meinungsbeitrag für die größte britische Zeitung „Sun“ und forderte die rund fünf Millionen Leser des Boulevardblattes auf, die einmalige Chance zu ergreifen, „die Kontrolle über unsere Demokratie von einer ungewählten, undemokratischen, unverantwortlichen und unreformierten Europäischen Union zurückzugewinnen.“ Die Volksabstimmung sei eine „kolossale Gelegenheit für Großbritannien. Wir sollten voller Vorfreude und Hoffnung sein, über das, was gewonnen werden kann.“

Am gleichen Tag wurden jedoch Filmaufnahmen bekannt, die Boris Johnson, damals noch Bürgermeister von London, als Fan des europäischen Binnenmarktes zeigten. Er gab 2013 auf die Frage eines Interviewers, ob er für einen Austritt stimmen würde, zur Antwort: „Ich würde für den Verbleib stimmen. Ich bin für den Binnenmarkt. Ich will, dass wir in der Lage sind, mit unseren europäischen Freunden unbehindert Handel treiben zu können.“ Gänzlich überraschend kommt diese 180-Grad-Wende für Beobachter nicht. Johnson nutzt das Referendum als ein Sprungbrett dafür, David Camerons in seinem Posten als Parteichef und Premierminister zu beerben.

Das kommt nicht gut an und könnte die wenige Tage vor dem Referendum das Brexit-Lager weiter schwächen. Vor einer Woche hatten Meinungsumfragen „Großbritannien auf Brexit-Kurs“ gezeigt. Jetzt demonstrieren fast ein halbes Dutzend Umfragen, die am Wochenende veröffentlicht wurden, dass sich die Stimmung erneut gedreht hat. Sie zeigen entweder ein Kopf-an-Kopf-Rennen oder einen knappen Vorsprung von bis zu drei Punkten für die EU-Freunde. Die Experten sind sich uneins, ob die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox beim Stimmungsumschwung die entscheidende Rolle gespielt habe. Dafür wären die Umfragen noch zu früh, meint das Meinungsforschungsinstitut YouGov, die Wende habe stattdessen mehr mit den wachsenden Sorgen über die wirtschaftlichen Folgen eines Brexit zu tun. Man verweist darauf, dass jetzt 33 Prozent der Befragten denken, dass ihre persönliche finanzielle Situation schlechter werden könnte - ein Sprung von zehn Prozent gegenüber der Lage vor zwei Wochen.

Etwa 15 Prozent gelten als unentschlossen

Dennoch dürfte der Faktor Cox in den nächsten Tagen bis zur Volksabstimmung noch eine Rolle spielen. Am Montag wird das Unterhaus in einer Sondersitzung zusammentreten, um der Volksvertreterin zu gedenken. Die Tribute, die man dann hören wird, für eine junge und leidenschaftliche Politikerin, die sich für Flüchtlinge und für die Europäische Union engagiert hat, dürften auch im Brexit-Wahlkampf Resonanz finden. Der mutmaßliche Täter hatte rechtsradikale Neigungen und unterstützte extreme Gruppen, die auch für den Brexit eintreten. Besonders innerhalb der Gruppe der unentschiedenen Wähler, so hoffen jetzt Europafreunde, werden sich viele nicht gemein machen wollen mit einer Haltung, die auf Ablehnung und Hass beruht. Bis zu 15 Prozent beträgt das Lager der Unentschlossenen, und Meinungsforscher gehen davon aus, dass zwei Drittel von ihnen sich gegen eines Austritt entscheiden werden.