Mexiko-Stadt. In Brasilien streiten Abgeordnetenkammer und Senat um Rousseffs Amtsenthebung. Zwei Drittel der Brasilianer wollen lieber Neuwahlen.

Selbst ausgewiesene Experten mussten sich am Montagnachmittag erst einmal sammeln, angesichts der neuen und unerwarteten Wendung im scheinbar endlosen Drama um die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff: „Freunde, ich habe einen Doktortitel in Politikwissenschaften, aber ich habe nicht die leiseste Idee, was hier gerade passiert“, schrieb Maurício Santoro, Professor an der Staatsuniversität von Rio de Janeiro, in den sozialen Netzwerken.

Damit reagierte er auf die überraschende Entscheidung des neuen Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Waldir Maranhão, das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff erst mal zu stoppen. Die Abstimmung im Parlamentsunterhaus am 17. April sei wegen Verfahrensfehlern ungültig und müsse nun wiederholt werden, urteilte Maranhão, der selbst erst wenige Tage dem Unterhaus vorsitzt.

Wird der Senat am Mittwoch dennoch abstimmen?

Der Schrecken oder die Freude über die Entscheidung bei den Beteiligten dauerte nur wenige Stunden, dann meldete sich Maranhãos Amtskollege aus dem Senat, dem Parlamentsoberhaus zu Wort. In wenig freundlichen Worten bezeichnete Renán Calheiros das überraschende Votum des Unterhauschefs als eine Entscheidung zur „Unzeit“, die keinen Sinn mache und in einem demokratischen Prozess keinen Platz habe.

Und Calheiros betonte, dass der Senat am Mittwoch trotz allem wie geplant über die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff debattiere und abstimme. Er ignorierte schlicht die Entscheidung seines Kollegen aus dem Unterhaus.

Nun kommt zum politischen Chaos und der Konfrontation von Regierung und Opposition im größten Land Lateinamerikas auch noch der Konflikt zwischen den beiden Parlamentskammern. Brasilien ist derzeit tatsächlich auf dem Weg zu einer Bananenrepublik. Die Menschen sind zunehmend ernüchtert von der politischen Klasse, die immer weniger für das Volk regiert, sondern persönliche Fehden austrägt, sich bereichert und ihre Pfründe sichern will.

Brasilianer wollen Neuwahlen

In einer Umfrage sprachen sich jüngst Zweidrittel der Brasilianer für Neuwahlen aus. Sie halten das Amtsenthebungsverfahren und seine Folgen für den falschen Schritt. Insbesondere Vize-Präsident Michel Temer, der Rousseffs Amt übernehmen und ihr Mandat bis 2018 zu Ende führen würde, ist in der Bevölkerung unbeliebt. Er genießt nur zwei Prozent Zustimmung und damit noch deutlich weniger als Rousseff, der 25 Prozent der Brasilianer einer gute Amtsführung bescheinigen.

Am Dienstag war zunächst völlig unklar, wie sich der institutionelle Knoten auflösen lässt. Wird das Verfahren an die Abgeordnetenkammer zurückgeben, die Abstimmung wiederholt? Oder macht der Senat wirklich so weiter wie geplant und stimmt am Mittwoch und Donnerstag über das Impeachment gegen Rousseff ab?

Letzteres ist im Augenblick schwer vorstellbar. Vermutlich wird das Oberste Gericht einschreiten müssen und die Entscheidung Maranhãos bestätigen oder verwerfen. Die Opposition reichte dort noch am Montagabend Klage gegen Maranhãos Entscheidung ein.

Brasiliens Ansehen im Ausland bedroht

Das Amtsenthebungsverfahren befinde sich bereits in der Kompetenz des Senats und könne deshalb nicht von der Abgeordnetenkammer rückgängig gemacht werden, argumentierte der Abgeordnete Pauderney Avelino. Dies überzeugt allerdings wenig, wenn die Abstimmung am 17. April im Unterhaus tatsächlich mit Mängeln und Verfahrensfehlern behaftet war.

In der Erklärung Maranhãos hieß es, die Mitglieder des Abgeordnetenhauses hätten in der Debatte vor der Abstimmung nicht ihre Meinung zum Amtsenthebungsverfahren offen kundtun dürfen. Zudem sei es unstatthaft gewesen, dass die Fraktionsführer ihren Mitgliedern vorgeschrieben haben, wie abzustimmen sei.

So oder so, das Ansehen Brasiliens im Ausland und bei Investoren hat einen weiteren Dämpfer bekommen, dabei braucht die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas dringend Unterstützung und Hilfe, um die tiefste Wirtschaftskrise seit 30 Jahren zu überwinden.

Wie geht es weiter?

So hofft vor allem die Wirtschaft auf eine Amtsenthebung der linksliberalen Präsidentin Rousseff, um sie durch den marktliberalen Vize-Präsidenten Temer zu ersetzen. Dieser baut hinter den Kulissen weiter an seinem Schattenkabinett, mit dem er möglicherweise bereits Ende der Woche Brasiliens Geschicke lenken muss, wenn der Senat doch abstimmt und Rousseff für zunächst 180 Tage suspendieren sollte.

Temer kündigte bereits an, dass er die Zahl der Ministerien von 32 auf 22 reduzieren wolle, teils durch Zusammenlegung, teils durch Auflösung. Wichtigste Entscheidung ist die Berufung des ehemaligen Bankers Henrique Meirelles, der Superminister für Wirtschaft und Finanzen werden soll. Er war unter Rousseff-Vorgänger Lula da Silva Gouverneur der Zentralbank.