Brüssel. Erstaunlich undiplomatisch hat EU-Ratspräsident Donald Tusk Kritik an der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel geübt.

Tusk an Merkel: Flüchtlingswelle stoppen! Ankömmlinge eingehend überprüfen! Runter von den gewaltigen Zahlen! Eine erstaunlich undiplomatische Botschaft, die der Präsident des Europäischen Rates im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ in Richtung Berlin schickt. Er nennt die Kanzlerin nicht namentlich, aber sie ist unzweifelhaft die Hauptadressatin. Tusk bezieht deutlich die Gegenposition zu seiner langjährigen Weggefährtin.

Eine Kehrtwende stellen die Aussagen des früheren polnischen Regierungschefs aber nicht dar, jedenfalls nicht inhaltlich. Dass die EU-Staaten zuallererst ihre Außengrenzen dicht machen müssen – diese Meinung vertritt Tusk seit Monaten. Auch gegen eine übertriebene Willkommenskultur hat er schon öffentlich den Zeigefinger erhoben. In einer Brandrede vor dem EU-Parlament warnte Tusk im Oktober vor „einer politischen Katastrophe“, wenn Europa seine Zugänge nicht wirksam kontrolliere. Nur hatte er die Konsequenzen bislang nicht ausbuchstabiert. Und er hat es vermieden, direkt anzusprechen, dass er an diesem Punkt über Kreuz liegt mit dem, was „manche politische Anführer“ in der EU sagen.

Eigentlich schätzen sich Tusk und Merkel

Persönlich sind Donald Tusk und Angela Merkel einander zugetan. Im Laufe der Jahre ist eine Partnerschaft gewachsen, in der beide zu schätzen lernten, was sie am jeweils anderen haben. Nicht nur weil Merkels CDU und Tusks Bürgerplattform zur selben Parteifamilie, der Europäischen Volkspartei, gehören. Mit dem Wahlsieg über die PiS der Zwillinge Kaczynski 2007 erlöste der Pole die Bundeskanzlerin aus einer quälend schwierigen Beziehung zum östlichen Nachbarn. Unter Tusk wurde Polen zu einem verlässlichen, proeuropäischen Mitspieler.

Umgekehrt wäre der polnische Kollege, ein Gewächs der Gewerkschaft Solidarnosc, kaum zum Brüsseler Gipfelpräsidenten aufgestiegen, hätte sich Merkel nicht für ihn stark gemacht. Brüsseler Beobachter und Diplomaten bezweifeln, dass sein jüngstes krachledernes Interview am guten Verhältnis grundsätzlich etwas ändert. Bei seinem Besuch in Berlin hatte die Kanzlerin Tusk ermuntert, bei der Behandlung der großen Krisen stärker aktiv zu werden. Das hat er getan – nur nicht als Merkel-Freund, sondern eben als Pole.

Getrieben von innenpolitischen Interessen in Polen?

„Schockiert“, zeigt sich die Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Rebecca Harms. „Er treibt eine Spaltung der EU-Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingspolitik voran. Er scheint stark getrieben von innenpolitischen Interessen in Polen.“ Doch muss man Tusk keine Willfährigkeit gegenüber dem rechtspopulistischen Getöse der Kaczynski-Partei unterstellen, die jetzt in Warschau wieder am Ruder ist. Er teilt schlicht die instinktiven Vorbehalte der meisten osteuropäischen EU-Staaten gegen eine Migrationspolitik, die mehr auf Integration und weniger auf Abwehr setzt. In vertraulicher Runde hatte Tusk bereits kritisiert, dass die EU unter deutscher Führung die Osteuropäer beim EU-Beschluss über die Umverteilung von Flüchtlingen überstimmt habe. Jetzt hat er es auch öffentlich getan – in aller Freundschaft.