Washington. Wieder Schüsse, wieder viele Todesopfer. Der Amoklauf von San Bernardino offenbart erneut das Waffen-Dilemma der USA. Eine Analyse.

Zum Trostlosesten im Alltag der USA gehören Rituale nach „Ereignissen“ wie jenen in San Bernardino, wo zwei Amokschützen 14 Menschen umbrachten, bevor sie selbst von der Polizei erschossen wurden. Wie in einer stillen Verschwörung üben sich Bürger, Politiker, Medien, Experten, Polizisten – nicht alle, aber immer noch viel zu viele – in einer Farce des Selbstbetrugs.

Nach Tränen und Entsetzen über die Opfer von Massenmorden mit Schusswaffen, die hier technokratisch verharmlosend „mass shootings“ genannt werden, kommt erst das Gebet. Und dann eine Flut abgestandener Worte des Bedauerns und der Anteilnahme, die schon beim Aussprechen ihre Wirkung verlieren. Jeder ahnt: Bis zum nächsten Mal, wenn das „breaking news“-Laufband der TV-Sender das Entsetzen wieder in die Wohnzimmer holt, ist es nicht mehr lange hin.

Woche für Woche ein moralischer Offenbarungseid

Es ist diese Endlosschleife des Grauens, mit der das selbst ernannte Vorbild der Weltgemeinschaft Woche für Woche den moralisch-intellektuellen Offenbarungseid leistet. Denn alle, die nicht ideologisch vollständig vernagelt sind, wissen, dass über 300 Millionen Schießprügel in Privathaushalten, himmelschreiend laxe Kontrollen beim Waffenverkauf, groteske Waffengesetze und eine tief verankerte Anbetung der „Gun“-Kultur Amerika ein furchtbares Alleinstellungsmerkmal eingebracht haben: Allein in den vergangenen vier Jahren sind mit rund 120.000 Toten mehr Amerikaner an Schusswaffengewalt gestorben als in den Kriegen von Korea, Vietnam, Afghanistan und Irak zusammen.

Die Rezepte, schrittweise etwas dagegen zu tun, liegen seit Ewigkeiten auf dem Tisch. Aber nicht einmal der Tod von 20 Grundschülern in Newtown hat vor drei Jahren zu einem grundsätzlichen Innehalten geführt. Einige Bundesstaaten haben ein wenig an der Kontrollschraube gedreht, andere die Verfügbarkeit von Waffen in atemberaubend verlogener Interpretation der amerikanischen Verfassung sogar noch erleichtert.

Präsident Obama als „Trostspender“ vor den Kameras

Insgesamt hat sich Amerika mit den permanenten Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land arrangiert. Mit dem Resultat, dass Präsident Barack Obama regelmäßig vor die Kameras treten und nach Amokläufen den hilf- und machtlosen „Trostspender“ spielen muss. Bis zum nächsten Mal.

Mögen die Motive des bizarren Mörder-Pärchens aus Kalifornien auch noch im Dunkeln liegen und eine islamistisch grundierte Verirrung der Gewaltexplosion nicht auszuschließen sein – an den politischen Folgen der Tragödie wird das aller Erfahrung nach nichts ändern: Im US-Kongress macht die republikanische Mehrheit weiter feige Männchen vor der Waffenlobby der National Rifle Association (NRA), die das Volk belügt, um das Recht auf Waffenbesitz und die davon profitierende Industrie zu schützen.

Ein tödlicher Virus in der Volksseele

Ihr Glaubensbekenntnis lautet: „Gegen einen bösen Menschen mit einer Waffe hilft nur ein guter Mensch mit einer Waffe.“ Diese Parole hat sich längst wie ein tödlicher Virus in der Volksseele eingenistet. Demokraten wie Hillary Clinton, die sich damit „nicht abfinden wollen“, wirken wie Strohhalme in einem reißenden Strom.

Man sieht bereits leise den Tag dämmern, an dem Amerika auch aufhören wird, über die Toten an seiner Heimatfront zu trauern. „Der liebe Gott“, titelte gestern ein Boulevard-Blatt in New York konsterniert, „wird‘s nicht richten.“