Istanbul. Türkischer Staatschef erneuert Vorwürfe gegen russischen Syrien-Einsatz. Russland kündigt visafreien Reiseverkehr mit der Türkei auf.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat Russland erneut vorgeworfen, in Syrien gegen die gemäßigte Opposition und nicht gegen die Terrormiliz IS vorzugehen. „Sie kämpfen nicht gegen Daesh (IS)“, kritisierte Erdogan in einem am Freitag bereitgestellten Interview mit dem Sender France 24. Vielmehr bombardiere Russland die in der Grenzregion lebende Minderheit der Turkmenen. Unterdessen hat Russland den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei zum 1. Januar 2016 aufgekündigt.

Die Türkei versteht sich als Schutzmacht der Turkmenen in Syrien und hatte das Vorgehen gegen die Minderheit mehrfach kritisiert. Zum Abschuss des Kampfjets im russisch-syrischen Grenzgebiet am Dienstag sagte Erdogan: „Wir wollen keine Spannungen mit Russland“. Es sei nun wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Erdogan sagte, er habe Putin „einige Zeit“ nach dem Vorfall angerufen, jedoch keinen Rückruf erhalten. Kremlsprecher Dmitri Peskow bestätigte am Freitag, dass Erdogan seinen Amtskollegen Putin um ein Treffen am Rande des Klimagipfels an diesem Montag in Paris gebeten habe. Ob es zu einem Treffen kommt und ob die beiden Staatschefs miteinander telefoniert haben, ließ er offen.

Putin und Hollande kommen auf keinen Nenner

Putin seinerseits bekräftigte nach dem Besuch des französischen Präsidenten François Hollande seine Bereitschaft zu einer internationalen Anti-Terror-Koalition. Der Westen wolle hingegen nicht in einem gemeinsamen Bündnis zusammenarbeiten, kritisierte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag in Moskau.

Putin und Hollande hatten am Vorabend über Schritte für einen gemeinsamen Kampf gegen den IS beraten. Putin hatte zugesagt, bei russischen Luftangriffen in Syrien künftig verstärkt Ziele des IS ins Visier zu nehmen.

Kommentar: Deutschlands riskanter Einsatz gegen den IS

Doch bei der Zukunft für Syrien konnten die beiden Staatschefs keinen gemeinsamen Nenner finden. Hollande will Assads Rücktritt, Putin aber sieht ihn als natürlichen Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus.

Russland werde seine Luftangriffe in Syrien unvermindert fortsetzen, kündigte Peskow an. Türkische Berichte über eine mögliche Reduzierung der Flüge im türkisch-syrischen Grenzgebiet wies er zurück.

Davutoglu verteidigt Abschuss in Gastbeitrag

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ruft indes zu einem geschlossenen Kampf gegen den IS auf. „Wir dürfen nicht von der Sache abgelenkt werden, die uns eint“, schrieb Davutoglu in einem Beitrag für die „Times“ (Donnerstagausgabe). Die internationale Gemeinschaft müsse sich nun auf den Kampf gegen IS konzentrieren. Gleichzeitig müsse die Zukunft Syriens gewährleistet und eine Lösung für die Flüchtlingskrise gefunden werden. Andernfalls werde der IS seine „hasserfüllte Ideologie“ weiter verbreiten.

Den Abschuss des russischen Kampfjets verteidigte Davutoglu erneut. Die Türkei habe ihr Hoheitsgebiet verteidigt. Der Abschuss habe sich jedoch nicht gegen ein bestimmtes Land gerichtet. Man werde mit Russland und den Verbündeten zusammenarbeiten, um Spannungen abzubauen.

Russland kündigt visafreien Verkehr auf

Die Führung in Moskau hat unterdessen den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei zum 1. Januar 2016 einseitig aufgekündigt. Diese Entscheidung habe die Regierung nach dem schweren Zwischenfall im syrischen-türkischen Grenzgebiet getroffen, sagte Außenminister Sergej Lawrow der Agentur Interfax zufolge am Freitag in Moskau. Grund sei eine „tatsächlich existierende und nicht ausgedachte“ terroristische Gefahr, sagte Russlands Chefdiplomat - ohne Details zu nennen. Vizeregierungschef Arkadi Dworkowitsch kündigte für diesen Samstag eine Liste mit weiteren Sanktionen gegen die Führung in Ankara an.

Presseschau zum Jet-Abschuss

Die Presse (Wien)

„Die Türkei und Russland sind trotz mehrerer Konferenzen nicht einmal in der Lage, sich militärisch so abzustimmen, dass sie sich gegenseitig keine Kampfflugzeuge abschießen. Auch die weltweite Allianz gegen den sogenannten Islamischen Staat hat man sich anders vorgestellt. (...) Und es zeigt vor allem, wie brandgefährlich der Krieg in Syrien ist, in den mittlerweile fast alle Groß- und Regionalmächte verwickelt sind. Das ist der Stoff, aus dem schon Weltkriege entstanden sind.“

Thüringische Landeszeitung (Weimar)

"Die Beziehung der beiden Länder (Türkei und Russland) wird nun hart auf die Probe gestellt. Allerdings nützt die Eskalation beiden Präsidenten. Putin kann nun seinen Landsleuten glaubhaft versichern, dass sich der Westen gegen Russland verschworen habe, während Erdogan den Türken zeigen kann, dass er bereit ist, sein Land zu verteidigen. Gleichzeitig lenkt er von innenpolitischen Problemen ab. (...) Ob sich nun noch eine gemeinsame Koalition, wie nach den Attentaten von Paris angekündigt, gegen den IS bilden wird, ist höchst zweifelhaft. Russland und die Nato-Länder teilt derzeit mehr als sie eint.“

Huffington Post

„Der Abschuss der Militärmaschine belastet das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen schwer - das Anti-Terror-Bündnis, das Paris, Washington und Moskau gerade schmieden, ist fragiler, als viele dachten. Zu groß ist das Misstrauens Putins gegenüber den Nato-Staaten. Das ist Ankara nur Recht. Ein Bündnis würde den syrischen Machthaber Assad wohl kurzfristig stützen, was die Türkei mit allen Kräften verhindern will. Was den Abschuss aus westlicher Sicht unverantwortlich erscheinen lässt, macht aus türkischer Sicht also durchaus Sinn. So gibt es einen schrecklichen Verdacht: Der Abschuss war nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Entscheidung. Und die Türkei, nicht Russland, wäre damit das größte Problem im Kampf gegen den Terror.“

Bild (Berlin)

"Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Die Situation an der Ostgrenze der Türkei, an der Grenze der Nato, ist seit Langem bedrohlich. Seit gestern ist sie brandgefährlich! Für die Türkei, die Nato, Europa - für die ganze Welt. Denn der Abschuss des russischen Jagdbombers durch ein (türkisches) Nato-Flugzeug zeigt: Es geht nicht nur um Syrien, um Assad oder islamischen Terror! Hier kann, durch den kleinsten Kurzschluss, ein Konflikt zwischen Putins Russland und dem Westen entstehen. Ein Krieg, den keiner will! Darum ist es so wichtig, dass die Verantwortlichen - vor allem in Moskau und Ankara - ihre nächsten Schritte jetzt sorgfältig abwägen. Damit die Lage nicht noch weiter eskaliert. Denn gewinnen kann in diesem Konflikt am Ende niemand: Nicht Erdogan. Und Putin auch nicht. Aber einen Nutznießer gibt es trotzdem: die Steinzeit-Islamisten der ISIS. Denn solange die sogenannte Koalition sich selbst an die Gurgel geht, können die selbst ernannten Gotteskrieger weiter plündern und morden."

Rhein-Neckar-Zeitung (Heidelberg)

"Der wichtigste Streitpunkt bleibt die Zukunft des syrischen Machthabers Assad. Während Russland und der Iran ihren Verbündeten unbedingt an der Macht halten wollen, gehört die Türkei zu den erbittertsten Gegnern des Diktators. Der Streit um Assad ist daher zu einer Art Lebensversicherung für den IS geworden. Wie sich die Terroristen besiegen lassen, zeigen ja nicht zuletzt die Erfolge der kurdischen und schiitischen Milizen im Irak. Doch die verworrene Gemengelage in Syrien spielt den Extremisten in die Karten."

„Der neue Tag (Weiden)

Ist es wirklich hilfreich, in dieses unübersichtliche Gemenge hinein - mit seinen regionalen und internationalen Interessens-Gegensätzen - westliche Bodentruppen zu entsenden? Die Europäer laufen Gefahr, in Syrien die katastrophalen Fehler der Amerikaner in Afghanistan und im Irak zu wiederholen. Der Abschuss des Kampfflugzeugs ist eine Warnung.

Märkische Oderzeitung (Frankfurt/O.)

"Schon mehrfach hat Ankara versucht, mit der Begründung von Grenzverletzungen die Nato in das Geschehen hineinzuziehen. So wurden „Patriot“¬Raketen stationiert - und wieder abgezogen, weil aus Syrien kein einziger Angriff erfolgte. Gleichzeitig hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wiederholt klar gemacht, dass er den Sturz von Syriens Staatschef Baschar al¬Assad anstrebt. Es sind aber neben dem IS und tschetschenischen Exil¬Islamisten eben auch türkisch unterstützte Rebellengruppen, die Russland in Syrien bombardiert. Und - was der Regierung in Ankara noch ein größerer Dorn im Auge sein dürfte: Russland macht dabei gemeinsame Sache mit der Regionalmacht Iran, deren Einfluss Erdogan eigentlich eingrenzen will. Dass nach dem Abschuss auch Russlands Präsident Wladimir Putin die Ärmel hochkrempelt und die Türkei als „Komplizen von Terroristen“ brandmarkt, zeigt, wie sich hier zwei Kontrahenten gegenseitig ihre Macht zeigen wollen."

El Mundo (Madrid)

 "Der Abschuss der russischen Militärmaschine löst neue Spannungen innerhalb der Gruppe von Mächten aus, die die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bekämpfen. Es scheint klar zu sein, dass das Flugzeug keine Gefahr für die Sicherheit der Türkei bedeutete. Der Zwischenfall ereignete sich ausgerechnet in einer Zeit, in der Frankreich sich bemüht, eine internationale Allianz zu schmieden, der Russland, die EU, die Nato und die wichtigsten regionalen Mächte angehören sollen. Der Abschuss bedeutet einen Rückschlag für diese Bestrebungen. Die Nato, Russland und die EU sollten sich enger zusammenschließen und ihre Einzelinteressen hintanstellen, um dem Kalifat des IS einen entscheidenden Schlag zu versetzen.“

Adevarul (Bukarest)

„(Der Kremlchef Wladimir) Putin ist im Nahen Osten gelandet in der Überzeugung, dass er dort tun und lassen kann, was er will, weil sein Ruf als harter Hund jeden möglichen Gegenschlag der kleineren Akteure in der Region lähmen würde. Da hat er Pech gehabt. Die Türken sind eben nicht klein. (...) Klar ist nur, dass das Renommee einer interkontinentalen Macht, das Putin für Russland wieder aufzubauen begonnen hatte, jetzt an der türkisch-syrischen Grenze zusammengebrochen ist. Denn, im Unterschied zu den militärischen Pygmäen, die Putins Russland bisher in Schach gehalten hat, ist die Türkei eine eigenständige Kraft und ein wichtiger Pfeiler der Nato."

La Repubblica (Rom)

„Der Vorfall, der sich am Dienstagmorgen im Luftraum ereignete - ob diesseits oder jenseits der Grenze zwischen Syrien und der Türkei -, hat bereits ernsthafte internationale Konsequenzen. Vor allem gefährdet er die Koalition gegen die Terroristen des Islamischen Staats. Sie war dabei, sich zu erweitern und dank des Beitritts Russlands stärker und effizienter zu werden, und jetzt scheint alles wieder auf dem Spiel zu stehen. Wladimir Putin stand dicht davor, sich der von den Vereinigten Staaten geführten Allianz anzuschließen, angetrieben von dem Gemetzel in Paris und seinem mit mehr als 200 Passagieren über dem Sinai explodierten Flugzeug. Nun ist von einem "Dolchstoß" die Rede.“

Dennik N (Bratislava)

„Die gegenwärtige türkische Regierung ist nicht viel vertrauenswürdiger als die russische. Deshalb werden wir vielleicht nie eine Antwort auf die einfache Frage bekommen, ob das abgeschossene russische Flugzeug wirklich den türkischen Luftraum verletzt hat. Gar nicht zu reden davon, dass in einer so explosiven Situation, wie sie jetzt in Syrien besteht, auch dies noch nicht wirklich ein ausreichender Grund gewesen wäre, es gleich abzuschießen. Die Türkei und Russland spielen aber in Syrien jeweils ihr eigenes egoistisches Spiel - und das macht sie beide zu außerordentlich gefährlichen Teilnehmern des Konflikts.“

Guardian (London)

„Es ist entscheidend, dass in Moskau, Ankara und in der Nato die kühlen Köpfe die Oberhand behalten. Aber es können auch Lehren gezogen werden. Eine ist die dringende Notwendigkeit von Zurückhaltung und das bessere Teilen von Informationen unter allen, die Luftangriffe auf Syrien ausführen. Eine weitergehende Schlussfolgerung ist, dass trotz aller offiziellen Bekenntnisse zu einem gemeinsamen Einsatz weiterhin unvereinbare strategische Interessen aufeinanderprallen. (...) Eine vereinte internationale Koalition gegen den IS aufzubauen mag eine gute Parole sein. Aber wie dieser Zwischenfall gezeigt hat, ist es eine Parole, die eine gute Portion Illusion beinhaltet.“

Kommersant (Moskau)

„Der Flugzeugabschuss ist der Tiefpunkt einer Krise, die schon länger andauerte. Auf Russlands Luftangriffe in Syrien hatte die Türkei stets äußerst negativ reagiert. Nun verändert der zu Boden gebrachte Kampfjet das Verhältnis grundsätzlich. Es ist aber kaum anzunehmen, dass auch nur eines der wichtigen westlichen Länder deswegen seine Beziehungen zur Führung in Ankara belasten wird. Denn auf der Suche nach einer Lösung der beispiellosen Flüchtlingskrise ist die Türkei zu wichtig geworden. Die Gespräche zwischen den EU-Ländern und der Türkei über einen weiteren Beitrag Ankaras laufen. Da wird kein westliches Land wegen eines russischen Flugzeugs Streit riskieren.“


 

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