Moskau/Istanbul. Wurde der Pilot der russischen Su-24 vor dem Abschuss gewarnt? Er bestreitet das, aber die Türkei hat Tonaufnahmen veröffentlicht.

Ein Abschuss aus heiterem Himmel – oder die letzte Konsequenz, weil alle Warnungen nicht befolgt wurden? Nach dem fatalen Raketentreffer der türkischen Luftwaffe auf einen russischen Sukhoi Su-24-Kampfjet gehen die Berichte über den Hergang weit auseinander. Die türkische Luftwaffe veröffentlichte am Mittwochabend Tonaufzeichnungen, die belegen sollen, wie der türkische Pilot die Besatzung der russischen Maschine eindringlich warnte. Bereits am Dienstag hatte ein türkischer Sender die Sequenzen abgespielt. Auf Facebook verbreitet wurde das Video auch von einer nicht-offiziellen Unterstützerseite für die türkische Luftwaffe.

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Auf der Aufnahme ist die mehrmalige Warnung zu hören, nach Süden abzudrehen. Er sei im türkischen Luftraum. Es soll sich bei dem Tondokument um den Funkspruch an die Piloten handeln.

Die Maschine schlägt ein.
Die Maschine schlägt ein. © dpa | Haberturk Tv Channel

Zuvor hatte sich der überlebende Russe zu Wort gemeldet und bestritten, dass es eine Warnung durch das türkische Militär gegeben habe. „Es gab keine Warnungen, nicht per Funk, nicht visuell, wir hatten überhaupt keinen Kontakt“, sagte Konstantin Murachtin der Agentur Interfax zufolge am Mittwoch. Die Türkei hatte mitgeteilt, die russische Suchoi Su-24 vor dem fatalen Raketentreffer mehrfach und über mehrere Minuten hinweg kontaktiert zu haben.

Die Rakete des türkischen F-16-Kampfflugzeugs sei plötzlich und unangekündigt von hinten eingeschlagen, sagte Murachtin. Ein Abwehrmanöver sei nicht möglich gewesen. Der Pilot wies zudem türkische Angaben zurück, wonach der russische Jet in den türkischen Luftraum eingedrungen sei. Dies schließe er aus, meinte Murachtin. Ein zweiter Pilot kam bei dem Vorfall ums Leben.

Nato und Vereinte Nationen besorgt

Die ohnehin schon gespannte Lage in der Region wurde durch den Zwischenfall nochmals verschärft. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Nato, dessen Mitglied Türkei das Kampfflugzeug abgeschossen hatte, äußerten sich besorgt über eine mögliche Eskalation.

Das Weiße Haus teilte mit, US-Präsident Barack Obama habe in einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan gesagt, dass die Türkei aus Sicht der USA und der Nato das Recht habe, seine Souveränität zu verteidigen. Zugleich stimmten beide Politiker darin überein, dass die Lage nicht eskalieren dürfe. Es müssten Vorkehrungen getroffen werden, damit sich solch ein Vorfall nicht wiederhole. Russland kritisierte die Haltung der Nato und kündigte den Einsatz zusätzlicher Militärjets an.

„Ich hoffe auf weitere Kontakte zwischen Ankara und Moskau, und ich rufe zu Ruhe und Deeskalation auf“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstagabend nach einer von der Türkei beantragten Sondersitzung des Nato-Rates in Brüssel. „Diplomatie und Deeskalation sind wichtig, um diese Situation in den Griff zu bekommen.“

US-Regierungskreise: Jet über Syrien abgeschossen

Nach Erkenntnissen der Nato dürfte die Darstellung Ankaras zutreffen, wonach das türkische Militär den Bomber vom Typ Suchoi Su-24 nach einer Verletzung des türkischen Flugraums beschoss. Moskau betonte, der Flieger habe für die Türkei keine Gefahr dargestellt und sei über syrischem Boden abgeschossen worden, womit sich die türkische Regierung zu „Helfershelfern von Terroristen“ gemacht habe. Auch aus US-Regierungskreisen hieß es, die Maschine sei zwar kurzzeitig im türkischen Luftraum gewesen, dort aber nicht getroffen worden. Das teilte ein Vertreter der US-Regierung der Nachrichtenagentur Reuters mit. Diese Beurteilung basiere auf Wärmedaten des Jets. Die türkische Regierung betonte, die Grenzverteidigung sei „sowohl unser internationales Recht als auch unsere nationale Pflicht“.

Als Reaktion auf den Vorfall werden alle Luftwaffeneinsätze Russlands gegen die Terrormiliz IS in Syrien ab sofort von eigenen Kampfjets begleitet, wie der Generalstab in Moskau laut des staatlichen Nachrichtenportals „Sputniknews“ bekanntgab. Zuvor hätten Bomber keinen derartigen Schutz bekommen. Außerdem wurde der russische Raketenkreuzer „Moskwa“ demnach angewiesen, vor der syrischen Mittelmeerküste Position zu beziehen und alle Ziele zu vernichten, die Russlands Luftwaffe in dem Bürgerkriegsland gefährden könnten.

Russland: Abschuss eine „geplante Provokation“

Russlands Nato-Botschafter Alexander Gruschko kritisierte nach der von Ankara beantragten Sondersitzung des Bündnisses am Dienstag, die Türkei sei für ihr Verhalten nicht verurteilt worden.

Den Abschuss seines Kampfflugzeugs durch das türkische Militär wertete Russland als „geplante Provokation“. „Wir haben ernsthafte Zweifel daran, dass dies unbeabsichtigt war“, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch in Moskau. Russland habe genügend Informationen, dass der Abschuss im türkisch-syrischen Grenzgebiet am Vortag geplant gewesen sei, sagte er nach einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Feridun Sinirlioglu. „Dies war ganz offensichtlich ein Hinterhalt: Sie warteten, beobachteten und haben einen Vorwand gesucht“, meinte Lawrow. Die Atommacht Russland werde jetzt nicht mit dem Nato-Land Türkei Krieg führen.

Auch habe Moskau keine Beileidsnote nach dem Tod zweier Piloten erhalten. Einer von ihnen saß nach russischen Angaben in dem abgeschossenen Bomber, der andere in einem Hubschrauber, der von syrischen Rebellen auf dem Weg zur Rettung der verunglückten Flugzeugbesatzung beschossen wurde. Das Schicksal des zweiten Suchoi-Piloten ist ungeklärt. Für Russlands Streitkräfte sind es die ersten offiziell bestätigten Verluste seit Beginn ihrer Intervention im syrischen Bürgerkrieg im September.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon besorgt

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich „äußerst besorgt“ nach dem Suchoi-Abschuss. „Der Generalsekretär ruft alle militärisch in der Region verwickelten Parteien auf, alle Maßnahmen darauf abzustimmen, ungewollte Konsequenzen zu vermeiden“, sagte sein Sprecher in New York. Das Pentagon teilte mit, der Zwischenfall habe derzeit keine Auswirkungen auf die Aktionen der US-Luftwaffe in Syrien. Französische Kampfjets griffen dort am Dienstagabend gemeinsam mit der US-Luftwaffe erneut IS-Ziele an.

„Der Abschuss ist ein schwerer Rückschlag“, sagte der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), der „Huffington Post“. Einen Nato-Bündnisfall halte er jedoch „für unwahrscheinlich, weil eine Bewertung des Vorfalls im Moment unmöglich ist. Um alle Einzelheiten zu kennen,müssten beide Seiten Gespräche führen. Doch daran hat zumindest die türkische Seite im Moment kein Interesse.“

Sigmar Gabriel kritisiert die Türkei

Zuvor hatte Vizekanzler Sigmar Gabriel Ankara kritisiert. „Erstmal zeigt der Zwischenfall, dass wir einen Spieler dabei haben, der nach Aussage von verschiedenen Teilen der Region unkalkulierbar ist: Das ist die Türkei und damit nicht die Russen“, sagte der SPD-Chef am Dienstag bei einer Konferenz der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Dass die Russen jetzt die Konfrontation auslösen durch die Verletzung des Luftraums, darf einen ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Türkei dort in diesem Konflikt eine schwierige Rolle spielt.“ Es sei „denkbar“, dass dadurch ein Schaden für die angestrebte Koalition gegen den IS unter Einbeziehung Russlands entstehe. (dpa)