Die prorussischen Separatisten melden den Abzug ihrer schweren Waffen. Kiew vermutet bloße Umgruppierung

Kiew. Die Hoffnung auf eine langfristige Waffenruhe in der Ukraine hielt nur wenige Stunden. Das neue Abkommen von Minsk, das mithilfe der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und des französischen Präsidenten François Hollande ausgehandelt wurde, wird bis heute nicht umgesetzt. Bereits nachdem die vereinbarte Waffenruhe vor mehr als einer Woche offiziell in Kraft getreten war, gab es Berichte über die dramatische Lage um die Stadt Debalzewe – die ukrainischen Truppen wurden eingekesselt und zogen unter Beschuss ab. Nach den Kämpfen von Debalzewe hat sich die Lage in der Ostukraine ein wenig beruhigt – von einem komplettem Waffenstillstand aber kann immer noch nicht die Rede sein. Die ukrainische Armee meldete, dass am Montag ein Soldat beim Beschuss ums Leben gekommen sei und sieben weitere verletzt worden seien.

Nachdem die Separatisten die für sie strategisch wichtige Stadt Debalzewe erobert haben, scheinen sie sich eine Pause von den intensiven Kämpfen zu nehmen. Am Dienstag kündigten sie an, schwere Artillerie von der Front abziehen zu wollen. Eduard Bassurin, Vizebefehlshaber der „Volkswehr“, ließ mitteilen, an dem Tag seien 96 Geschütze abgezogen worden. Es handle sich um 122-Millimeter-Haubitzen D-30 und um 152-Millimeter-Panzerhaubitzen des Typs Msta. Der Abzug habe rund um die vier Städte Debalzewe, Horlowka, Donezk und Telmanowo stattgefunden. „Wir ziehen schwere Artillerie 50 Kilometer weg von der Frontlinie vom 19. September“, erklärte Bassurin. Die OSZE-Beobachter in der Ukraine konnten allerdings keinen Abzug bestätigen. Um festzustellen, dass es sich tatsächlich um einen Abzug der schweren Artillerie handelt und nicht nur um eine Truppenbewegung, seien genaue Angaben nötig, wo die Waffen stationiert waren, über welche Straßen sie abgezogen und wo sie anschließend stehen werden. Bis Montagabend habe die OSZE von keiner Seite solche Informationen in der angeforderten Form bekommen, sagte eine Sprecherin.

Das ukrainische Militär vermutet, dass die Separatisten statt eines Abzugs eine Umgruppierung ihrer Waffen betreiben, um eine Offensive auf einen anderen Frontabschnitt vorzubereiten. Der Sprecher des ukrainischen Sicherheitsrats, Andrej Lyssenko, erklärte, dass die Armee nur dann einen Abzug der schweren Artillerie beginnen könne, wenn der vereinbarte Waffenstillstand tatsächlich eingehalten werde. „Die ukrainische Seite hat bereits Standorte und Routen für den Abzug der schweren Technik vorbereitet“, sagte Lyssenko in Kiew. Sollte die Waffenruhe zwei Tage lang halten, sei das für Kiew ein Signal zum Abzug.

Als nächstes Ziel der Separatisten gilt Mariupol. Ein Angriff auf die Stadt würde längere Vorbereitungen und Umgruppierungen der Kräfte erfordern. Aber ausgerechnet die aktuell relativ ruhige Phase böte gute Voraussetzungen dafür. Am Dienstag erklärten die Separatisten, sie hätten zwei Dörfer nahe Mariupol unter ihre Kontrolle gebracht. Das macht nicht gerade Hoffnung auf eine langfristige Waffenruhe.

Die Außenminister der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs haben am Dienstag in Paris einen neuen Versuch unternommen, die Anwendung des Minsker Abkommens zu ermöglichen und eine „strikte Umsetzung“ der Einigung verlangt. Die Situation in den Kriegsgebieten der Ostukraine bleibt nach Einschätzung von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) „höchst fragil“. Es habe eine Reduzierung der Gewalt in den vergangenen Tagen gegeben, sagte der SPD-Politiker nach dem Treffen. „Aber es gibt unverändert zahlreiche Verletzungen des Waffenstillstands.“

Allen Beteiligten sei klar, dass die gesamte Situation sich „sehr schnell“ wieder Richtung Gewalt entwickeln könne. Steinmeier sagte, es gebe bisher kein Vertrauen zwischen den Gegnern in der Ukraine. Die prorussischen Separatisten in der Ostukraine warnte er erneut vor einem Angriff auf die Hafenstadt Mariupol. Er hoffe, dass es nach der Einnahme von Debalzewe „keine weiteren Versuche geben wird vonseiten der Separatisten, den eigenen Einflussbereich auszudehnen“. Käme es tatsächlich zu einem Angriff auf Mariupol, „würde das die Geschäftsgrundlage für (das Abkommen von) Minsk natürlich völlig verändern“, sagte Steinmeier. „Dann stünden wir vor einer neuen Situation.“ Er betonte, derzeit sei dies noch nicht der Fall. Die Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine gilt als letzter strategisch wichtiger Stützpunkt der ukrainischen Staatsführung in Kiew in den von prorussischen Separatisten beanspruchten Gebieten.

Die Außenminister riefen in Paris zudem die Mitgliedstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dazu auf, das nötige Personal, die technische Ausrüstung und mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Das Ende März auslaufende OSZE-Mandat für den Einsatz in der Ukraine solle verlängert werden. Die OSZE-Mission in der Ukraine biete Möglichkeiten, die vereinbarten Prozesse wie Waffenruhe oder den Abzug von schweren Waffen zu kontrollieren, sagte der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin. Der Eroberung von Debalzewe verurteilte er als einen Bruch der Vereinbarungen. Klimkin sieht inzwischen Friedenstruppen als die beste Chance, die Einhaltung der Waffenruhe zu überwachen. Am Montag sprach er mit dem Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon darüber, ob ein Uno-Friedenskontingent in der Ostukraine eingesetzt werden könnte. Man brauche „zusätzliche Mittel“, um die Situation zu stabilisieren und kontrollieren, sagte Klimkin.

Vier Monate nach einer Teillösung im Gaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine hat der Staatskonzern Gazprom dem Nachbarland wegen offener Rechnungen mit einem Lieferstopp gedroht. Russland habe bisher nicht die vereinbarte Vorauszahlung von der Ukraine für März erhalten, sagte Gazprom-Chef Alexej Miller in Moskau. Eine mögliche Einstellung der Versorgung der Ukraine sei auch eine Gefahr für Westeuropa, sagte Miller. Die Ukraine ist das wichtigste Transitland für russisches Gas nach Westen.