Die vereinbarte Waffenruhe wird in Teilen des Kampfgebiets nicht eingehalten. OSZE-Inspektoren sollen Feuerpause überwachen

Artjomowsk. Ab 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit in der Nacht zum Sonntag sollten die Waffen in der Ostukraine schweigen. So hatten es die Präsidenten Petro Poroschenko und Wladimir Putin vor den Zeugen und Vermittlern Angela Merkel, François Hollande und Gastgeber Alexander Lukaschenko in Minsk vereinbart. Tatsächlich nahm die Intensität des Beschusses in der Nacht ab und war auch über den Sonntag verhalten, aber eine vollständige Ruhe kehrte nicht ein.

Der strategische Schlüsselort Debalzewo musste weiter den Artilleriebeschuss der moskautreuen Separatisten über sich ergehen lassen. Bis zu 5000 ukrainische Soldaten sind dort eingeschlossen. Die Straße zwischen Artjomowsk und Debalzewo stand unter Feuer und musste gesperrt werden. Am letzten Checkpoint der ukrainischen Armee in Luganskoje, rund 20 Kilometer vor Debalzewo, war schwere Artillerie zu hören.

Obwohl die Hauptstraße in den umkämpften Ort gesperrt war, gelang es ukrainischen Sanitätern, Verletzte aus dem Kessel von Debalzewo über Feldwege nach Artjomowsk zu bringen. „Wir sind nach Mitternacht losgefahren und wurden auf dem Weg mehrmals aus Mörsern beschossen“, berichtet der verletzte ukrainische Soldat Sergej im Krankenhaus von Artjomowsk, der mit sechs Kameraden gerettet werden konnte. Der Weg in den Ort rund 50 Kilometer entfernt von Debalzewo habe mehr als fünf Stunden gedauert.

Von Verstößen gegen die Waffenruhe berichten auch andere ukrainische Posten. Nach Angaben aus dem Freiwilligenbataillon Asow versuchten die Separatisten am Sonntagmorgen, das Dorf Schirokino in der Nähe der Stadt Mariupol am Asowschen Meer einzunehmen. Die ukrainische Armee meldete zehn Angriffe auf ihre Soldaten in den ersten Stunden der Waffenruhe.

Die neue Lage ließ es aber immerhin zu, dass die Einwohner in einigen Dörfern sich wieder auf die Straße trauten. „Ich gehe zum ersten Mal seit Tagen zu meiner Mutter“, sagte Vitali, ein 27-jähriger Schlosser, der zu Fuß unterwegs zum Dorf Mironowka war. „Sie sitzt im Keller und will ihr Haus nicht verlassen.“

Kurz nach dem Beginn der Waffenruhe starben zwei Zivilisten bei einem Separatistenangriff. Ein alter Mann und eine Frau seien rund 20 Minuten nach Inkrafttreten der Waffenruhe beim Einschlag einer Grad-Rakete in dem Dorf Popasna in der Region Lugansk ums Leben gekommen, sagte der Regionalgouverneur Gennadi Moskal.

Präsident Poroschenko befahl seinen Soldaten, das Feuer einzustellen, zeigte sich jedoch besorgt, ob die Vereinbarung halten wird. In Donezk waren nach Mitternacht zwar noch vereinzelt Schüsse, aber kein Artilleriefeuer mehr zu hören, wie Reporter vor Ort berichteten. Auch in der Hafenstadt Mariupol werde die Waffenruhe weitgehend eingehalten, heißt es aus ukrainischen Militärkreisen.

Die Militärführung in Kiew bereitet nach eigener Darstellung den Rückzug schwerer Kriegstechnik vor. Dmitri Kuleba vom ukrainischen Außenministerium machte jedoch deutlich, dass die Geschütze nur gleichzeitig mit den Waffen der prorussischen Separatisten abgezogen würden. „Das wird ein Test für alle, ob sie bereit sind, den Friedensplan umzusetzen“, sagte er.

Entscheiden wird sich die Tragfähigkeit der Waffenruhe und eines zu verhandelnden Waffenstillstands an der Frage, wer Debalzewo unter seine Kontrolle bringt. Die Separatisten wollen diesen Ort nicht aufgeben, weil sie mit ihm über eine direkte Verbindung zwischen ihren Hochburgen Donezk und Lugansk verfügen würden. Die Separatisten hatten dem ukrainischen Militär zufolge auch am Sonnabend noch ihre Offensive vorangetrieben, um strategisch wichtige Positionen zu erobern.

Die ukrainischen Truppen hatten seit Wochen Angriffe auf das strategisch wichtige Debalzewo abgewehrt. Kämpfer der Separatisten sagten, sie hätten die Stadt mittlerweile vollständig eingekreist. Das erlaube ihnen, das Gebiet als eigenes zu bezeichnen. Kämpfe um die Stadt seien keine Verstöße gegen die Waffenruhe. „Wir können hier das Feuer eröffnen“, sagte Rebellenkommandeur Eduard Bassurin. „Es ist unser Territorium. Das Gebiet liegt innen: Es ist unseres.“ Allerdings sagte Poroschenko, eine Straße zu der Stadt sei offen geblieben. Von dort aus würden die ukrainischen Truppen mit Nachschub versorgt.

Die Bundesregierung teilte mit, Merkel und Hollande hätten in einem Gespräch mit Russlands Präsidenten Putin besonders auf die von den prorussischen Rebellen eingegangenen Verpflichtungen hingewiesen. Die drei Gesprächspartner hätten vereinbart, am Sonntag mit Poroschenko über die Umsetzung des Waffenstillstands zu beraten. Merkel und Hollande hätten auch mit Poroschenko telefoniert. Dieser habe versichert, Kiew stehe zu dem Abkommen.

Die von Deutschland und Frankreich vermittelte Feuerpause soll von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwacht werden. Neben der Waffenruhe sind bei der deutsch-französischen Friedensinitiative der Abzug schwerer Waffen von der Front, mehr Rechte für die Rebellengebiete und die Rückerlangung der Kontrolle der Grenze zu Russland für Kiew bis zum Jahresende vereinbart worden.

Mit Beginn der Waffenruhe in der Ostukraine hat Russland den mittlerweile 14. Hilfskonvoi mit rund 1800 Tonnen Ladung in das Krisengebiet geschickt. Mehr als 170 weiße Lastwagen mit der Aufschrift „Humanitäre Hilfe der Russischen Föderation“ überquerten am Sonntagmorgen die Grenze zur Ukraine, wie der Zivilschutz mitteilte.

Die Hilfsgüter, darunter vor allem Lebensmittel und Schulbücher, sollen in den Städten Donezk und Lugansk verteilt werden, die von prorussischen Separatisten beherrscht werden. Rund 400 Mitarbeiter des russischen Zivilschutzes seien an Bord der Lastwagen, sagte Behördensprecher Oleg Woronow der russischen Agentur Tass. Darunter seien neben den Fahrern auch Ärzte und Psychologen, um die Menschen im Konfliktgebiet zu betreuen.

Die Ukraine kritisiert Russlands Hilfskonvois als Verletzung ihrer Souveränität. Sie wirft dem Nachbarland vor, den Separatisten auf diese Weise Nachschub wie etwa Waffen und Munition zu bringen. Russland weist dies zurück und begründet die Hilfe mit der humanitären Katastrophe, die auch von einer ukrainischen Wirtschaftsblockade des Donbass verschärft worden sei.