Menschen fliehen vor der Armut im Kosovo in Richtung EU. Die meisten kommen illegal über Ungarns Grenzen. Jetzt verschärft das Land die Kontrollen

Budapest. Der Ungar Vincze Szalma holpert mit seinem Jeep über einen Feldweg – links winterlich karger Wald, rechts verdorrtes Schilf. „Da vorne ist die serbische Grenze“, sagt Szalma, während sich sein alter Lada Niva durch den Schlamm wühlt. „Die Flüchtlinge verstecken sich, wenn wir kommen. Aber wir werden schon welche finden.“ Szalma ist ein sogenannter Feldwächter im kleinen ungarischen Ort Ásotthalom. Seit vergangenem Sommer gibt es diese Dorfwächter. Drei feste, 13 Freiwillige. Bisher achtete der grauhaarige Szalma mit seinem jungen Kollegen Barnabás Herédi darauf, dass keine Harken, Wasserschläuche oder Maiskolben von den Feldern und Höfen der Bauern gestohlen werden. Seit Herbst aber sind sie vor allem dafür verantwortlich, Flüchtlinge zu finden, die illegal über die Grenze von Serbien nach Ungarn wollen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.

„Früher, da kamen nur 20, höchstens 30 am Tag.“ Ab September wurden es plötzlich mehr als 100, dann Hunderte, dann Tausende. Täglich. Szalmas persönlicher Rekord liegt bei 700 abgefangenen Flüchtlingen. Von insgesamt 1140 gestoppten Migranten an jenem Tag in seinem Grenzabschnitt. Das war Mitte Januar. Da kamen täglich mehr als 3000 Migranten über die Grenze, die hier nur ein flacher Graben im Ödland ist. Das Mobiltelefon läutet. „Wie viele, fünf?“, fragt Szalma. Ein Kollege hat im Schilf eine Gruppe Migranten entdeckt. „Nein, nimm sie noch nicht fest“, sagt Szalma. „Beobachte sie nur. Wir kommen.“

Nach wenigen Minuten Fahrt sieht Szalma eine Gruppe junger Männer im Gebüsch am Wegesrand lagern. Die Feldwächter rufen die Polizei und springen aus dem Wagen. „Kosovo?“, ruft Szalma den Migranten zu. Die nicken. Einer von ihnen sagt in gutem Deutsch: „Ich will nach Deutschland. Wir alle wollen nach Deutschland.“ Im Kosovo verdiene er nur 150 Euro und habe nur drei Tage frei im Monat. „Kosovo alles scheiße. Serbien auch scheiße. Deutschland, das ist gut. Da kann man arbeiten, fünf Euro die Stunde, egal ob schwarz oder nicht, es ist besser.“ Rexhep Kurteshi heißt der Mann. Er ist 23 Jahre alt und war schon im Jahr 2000 in Deutschland, als Kriegsflüchtling. Damals war noch Krieg im Kosovo. „Aber nach 22 Monaten haben die Deutschen mich zurückgeschickt.“

László Torockai, der Bürgermeister von Ásotthalom, berichtet: „Meist kommen die Migranten nachts; es ist sehr kalt – und dann fallen einige ins eisige Wasser.“ Mehrere Babys seien schon erfroren. Torockai ist Mitglied der rechtsradikalen Jobbik-Partei. Es war seine Idee, Feldwächter zu beschäftigen. Und ihm ist es zu verdanken, dass nun viele auf den kleinen Grenzort schauen. Er alarmierte die ungarischen Medien, darauf folgte die internationale Presse. Und darauf, endlich, die Politik und die Polizei. Bis dahin waren die Feldwächter die Einzigen, die versuchten Flüchtlinge zu entdecken. Torockai sieht in ihnen ein Problem der nationalen Sicherheit, auch der EU. Er sagt: „Es kommen ja auch Menschen aus Syrien, aus dem Irak, aus Afrika und aus Pakistan.“

Während Grenzwächter Szalma weiter Flüchtlinge sucht, findet wenige Kilometer entfernt ein Treffen statt: am Grenzübergang Röszke. Schwarze Regierungskarossen, Polizeikonvoi mit Blaulicht. Die Polizeichefs Serbiens und Ungarns treffen sich, um über die Flüchtlingskrise zu beraten. Zu Fuß laufen sie durch die Felder an der Grenze, um sich selbst ein Bild zu machen. Bereits am Montag hatte es ein Treffen in Belgrad gegeben. Dorthin kamen auch die deutschen und österreichischen Kollegen. Denn letztlich sei Ungarn „ein Transitland“, sagt Károly Papp, Chef der ungarischen Polizei. „Die Migranten wollen weiter, nach Deutschland und nach Österreich.“ Wenn die Flüchtlinge es nach Ungarn schafften, setzten sie sich bisher einfach in den Zug. Ungarn gehört zur Schengen-Zone. Dort gibt es keine Grenzkontrollen. Mittlerweile aber „gibt es intensive gemeinsame Kontrollen mit den deutschen und österreichischen Kollegen in den Zügen nach Wien und München“, sagt Papp. In einem einzigen Zug wurden kürzlich 330 Migranten abgefangen. Und seit dem Treffen der Polizeichefs in Röszke werden auf der serbischen Seite Eliteeinheiten der Polizei und des Militärs eingesetzt, um die Migranten zu stoppen.

Dass die serbische Polizei nun stärker die Grenze schützt, merkt auch Szalma auf der ungarischen Seite. Es ist fünf Uhr nachmittags. Heute haben die Männer mehr als 100 Migranten entdeckt – wenig, findet Szalma. So viele wie bei seinem Rekord Mitte Januar hat Szalma schon lange nicht mehr gefasst. Auch Károly Papp nennt rückläufige Zahlen für die gesamte Grenze: „Gegenwärtig sind es täglich 650 Migranten, deutlich weniger als die mehr als 3000 täglich, die wir im Januar zählten.“ Dennoch passieren mehr Menschen die Grenze als im vergangenen Jahr.

Dass viele verstärkt über die Grenze zwischen Ungarn und Serbien fliehen, liegt am Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Oktober 2012, sagt Gizella Vas. Sie ist Chefin der ungarischen Grenzpolizei. Das Gericht verurteilte die ungarische Regierung für die bis dahin geltende Praxis, Asylbewerber bis zur Entscheidung über ihren Antrag in Gewahrsam zu halten. Man konnte also nicht weiterreisen, etwa nach Deutschland.

Seit dem Urteil eines EU-Gerichts hält Ungarn Asylbewerber nur einen Tag fest

Entsprechend wenige versuchten den riskanten Weg über Ungarn. Viele versuchten es früher über Montenegro und Kroatien nach Österreich. Doch es war schwierig, diese Grenzen zu überqueren, es kamen nur wenige. Dann aber fügte sich Ungarn dem Willen der europäischen Richter. Seitdem halten die Behörden Asylbewerber nur noch 24 Stunden fest, um Personalien und Asylanträge entgegenzunehmen. Bearbeitet werden könnten die Anträge nicht, sagt Gizella Vas, denn die Antragsteller seien „binnen 36 Stunden weg – ab in den Westen“. Die Lockerung der Regeln in Ungarn sprach sich schnell herum. 2013 kamen schon 13.000 Asylbewerber, sechsmal mehr als im Vorjahr. 2014 waren es bereits 43.000 Menschen. Und allein in den ersten fünf Wochen dieses Jahres kamen weitere 23.000. Etwa 40 Prozent sind Kinder.

Vincze Szalma und Barnabás Herédi, die Feldwächter, sind weiter auf Patrouille. „Schaut, hier kommen sie auch immer rüber“, sagt Szalma. Da ist ein kleiner Fluss, Baumstämme liegen quer im Wasser – eine improvisierte Brücke. Am Ufer liegen nasse Kindersocken und lose Zettel. Sie sind nass, die Schrift verwaschen, aber ein Geburtsdatum Anfang Januar sticht heraus: Die Frau muss ein nur fünf Wochen altes Baby dabeigehabt haben. Und detaillierte Landkarten, Computerausdrucke mit eingezeichneten Routen – von Ort zu Ort bis nach Oslo.

Menschenschmuggler verlangen für solche Dienste viel Geld. „Wir haben 500 Euro für jeden bezahlt“, sagt Rexhep Kurteshi. „Dafür bringen sie einen bis auf drei, vier Kilometer an die Grenze heran und zeigen den Weg, dann ist man allein.“ Geld würden auch die serbischen Polizisten nehmen, wenn man welche trifft, sagt Kurteshi: „50 oder 100 Euro, dann lassen sie einen gehen.“

Szalmas junger Kollege, der Feldwächter Barnabás Herédi, verdient umgerechnet 345 Euro im Monat. Er überlegt, mit einigen Freunden nach England zu gehen. Der Mann, der die Grenze vor Wirtschaftsmigranten schützt, will selbst einer werden.