Die Lage an Israels Nordgrenze spitzt sich wieder gefährlich zu

Tel Aviv. Seit Ende des zweiten Libanonkriegs 2006 konnte man an der israelisch-libanesischen Grenze den Duft von Pinien und Zypressen genießen, die an den steilen Hügel rund um Israels nördlichste Stadt Metulla wachsen. Doch seit Mittwochmittag liegt hier wieder ein altbekannter, unerwünschter Geruch in der Luft, eine Mischung aus abgefackeltem Schießpulver und den süßlichen Diesel-Abgasen zahlreicher Kettenfahrzeuge und Artilleriegeschütze. Mit ihnen hatte die israelische Armee einen Angriff der libanesischen Hisbollah-Miliz in Har Dov beantwortet. Einheiten der islamistischen Hisbollah hatten Panzerfäuste auf eine israelische Grenzpatrouille abgefeuert und mindestens einen Geländewagen getroffen. Dabei wurden zwei israelische Soldaten getötet, bis zu zehn wurden verletzt. Die Armee reagierte sofort mit schwerem Artilleriebeschuss vermuteter Hisbollah-Stellungen im Südlibanon, die schiitische Kampfgruppe feuerte aus schweren Mörsern zurück. Doch dabei scheint es nicht zu bleiben.

Israels Armeeführung kündigte bereits an, dass man es nicht bei Artilleriebeschuss belassen werde. Schon in den vergangenen Tagen waren israelische Kampfflugzeuge im Einsatz. Nachdem am Dienstagmittag zwei Raketen im Golan eingeschlagen waren, hatten in der Nacht zum Mittwoch Lufteinheiten bereits mindestens drei Stellungen von Syriens Armee angegriffen. Im Verteidigungsministerium in Tel Aviv machte man das syrische Regime von Baschar al-Assad für den vorhergehenden Beschuss verantwortlich. Man habe den Abschussort der Geschosse in syrischen Armeestellungen lokalisiert, hieß es. Nach dem Zwischenfall am Mittwoch erhielten die Bewohner Nordisraels die Anweisung, umgehend ihre Schutzräume aufzusuchen und ihre Haustüren abzusperren, aus Angst vor einem möglichen Eindringen feindlicher Kämpfer. Das Gebiet entlang der Grenze wurde weiträumig zur militärischen Sperrzone erklärt. Es ist die schwerste Eskalation der Gewalt seit einem Überraschungsangriff der Hisbollah im Jahr 2006, der den 34 Tage langen zweiten Libanonkrieg auslöste. Etwa 1000 Menschen fielen ihm zum Opfer.

In Israel hatte man seit Tagen mit einem Angriff gerechnet, schließlich hatten die Hisbollah und deren iranische Förderer ihn lauthals angekündigt. Seitdem vor zehn Tagen auf den Golanhöhen bei einem angeblichen israelischen Luftangriff zwölf hochrangige Kommandeure der Hisbollah und des Iran starben, brennt in Beirut und Teheran der Wunsch nach Rache. Mit dem Angriff habe „das zionistische Regime unsere roten Linien überschritten“, sagte am Mittwoch der stellvertretende iranische Außenminister Hossein Amit Abdollahian. Man habe den Amerikanern mitgeteilt, dass Israel „die Konsequenzen für ihre Tat erwarten sollte“. Schon einen Tag zuvor hatte Brigadegeneral Mohammed Resa Naghdi, Kommandant der iranischen Basidsch-Miliz gewarnt: „Die Zionisten sollten wissen, dass sie sich ihrer eigenen Zerstörung nähern. Sie sollten sich wappnen, weil sie keinen Frieden mehr erleben werden.“ Jerusalem nimmt diese Drohungen ernst. In vergangenen Tagen wurden Truppen an der Grenze aufgefahren und Raketenabwehrbatterien in den Norden verlegt. Am Mittwochmorgen begann die Armee zudem erstmals, an der libanesischen Grenze nach möglichen Angriffstunneln der Hisbollah zu suchen. Vergangenen Sommer hatte die radikalislamische Hamas in ihrem Krieg mit Israel versucht, mithilfe solcher Tunnel in Israel einzudringen und Zivilisten zu verschleppen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gilt zwar als Hardliner, jedoch auch als eher vorsichtig, was militärische Abenteuer angeht. Ein Krieg gegen Hisbollah könnte zwar sein Image als „Mr. Sicherheit“ aufpolieren, birgt jedoch gleichzeitig zahlreiche Risiken. Hisbollah verfügt nach Schätzungen des israelischen Militärs über ein Arsenal von mehr als 60.000 Raketen. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hat erklärt, seine Organisation könne mit ihren Raketen jeden Punkt in Israel erreichen. In einem künftigen Krieg mit Israel werde man „Millionen Zionisten das Leben zur Hölle machen“.

Die meisten Analysten sind sich aber einig, dass weder Israel noch Syrien, die Hisbollah oder der Iran an einem ausgewachsenen Krieg interessiert sind. Alle Seiten wollen durch die kontrollierte, gut dosierte Anwendung von Gewalt letztlich strategische Ziele erreichen. Doch die richtige Dosierung ist schwer: Israels Reaktion muss heftig genug sein, um seine Feinde abschrecken, darf aber weder Assad zu sehr schwächen, um nicht dessen Gegner wie die radikalislamische al-Qaida oder den IS zu stärken, und auch nicht die Hisbollah zu weiteren Attacken zwingen. All diesen Erwägungen zum Trotz schaukeln sich beide Seiten bei dem Versuch, ihr Gegenüber abzuschrecken, immer weiter hoch. Die Gefahr einer Fehlkalkulation ist gewaltig. Bräche nun der dritte Libanonkrieg aus, wäre es nicht das erste Mal im Nahen Osten, dass ein kalt kalkulierter Schritt unvorhergesehene, verheerende Folgen hätte.