Mehrere Festnahmen nach Anti-Terror-Aktion. Zelle hatte internationale Verbindungen. Brüssel gilt als geheime Hauptstadt des Islam in Europa

Brüssel. Tag eins nach einer der größten Anti-Terror-Operationen in der Geschichte Belgiens. Zwei mutmaßliche Dschihadisten wurden während eines Feuergefechts mit der Polizei in der ostbelgischen Kleinstadt Verviers getötet, nur etwa 25 Kilometer von Aachen entfernt. Inzwischen wurden 13 mutmaßliche Islamisten festgenommen. Zwei weitere Verdächtige wurden in Frankreich gefasst, die belgischen Behörden wollen ihre Auslieferung beantragen, wie die Staatsanwaltschaft ankündigte. Belgien befindet sich im Alarmzustand. Die Behörden haben die zweithöchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Polizeiwachen sind geschlossen. An jüdischen Schulen in Brüssel und Antwerpen fällt der Unterricht aus. Die EU-Kommission im Brüsseler Europaviertel hat die Zahl der Sicherheitsmaßnahmen auf allen Ebenen verstärkt. „Die Kommission hat entschieden, das Sicherheitsniveau zu erhöhen“, sagte eine Sprecherin. Die belgische Regierung ist am Freitagmorgen zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen, um über schärfere Sicherheitsmaßnahmen zu beraten.

„Die Einsätze vor Ort sind beendet“, sagte Belgiens Außenminister Didier Reynders. Aber damit ist das Problem nicht gelöst. Das wissen alle. Die Angst geht um in Belgien. „Ich kann noch nicht sagen, ob die Terrorwarnstufe noch einmal heraufgesetzt wird“, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft auf einer Pressekonferenz in Brüssel. Auch sonst hatte der Staatsanwalt keine guten Nachrichten. Ziel der Einsätze sei zwar gewesen, „eine Terrorzelle zu zerschlagen, insbesondere deren logistisches Netzwerk“, sagte er. Aber: „Ich kann nicht sagen, dass wir die gesamte terroristische Zelle neutralisiert haben.“ Mehrere belgische Medien spekulieren, dass die Einsätze weitere Terrorzellen „aktiviert“ haben könnten. Van der Sypt äußerte sich dazu nicht. Die Regierung will verhindern, dass Panik in der Bevölkerung entsteht. Bei den Razzien am Donnerstagabend im Großraum von Brüssel wurden vier Kalaschnikows, Sprengstoff, weitere Schusswaffen, Munition, Handys, gefälschte Dokumente, viel Geld und Polizeiuniformen sichergestellt.

Bei den getöteten Dschihadisten handelt es sich um Rückkehrer aus Syrien. Sie besaßen einen belgischen Pass. Nähere Angaben zur Person wollten die Ermittler nicht machen. Die beiden Männer wurden nach einem „ziemlich heftigen“ Schusswechsel getötet, sagte Außenminister Reynders. Der Einsatz begann am frühen Donnerstagabend gegen 17.45 Uhr. Die mutmaßlichen Dschihadisten hatten sofort das Feuer auf die Spezialkräfte der belgischen Polizei eröffnet.

Die Einsatzkräfte handelten in letzter Minute, ein Attentat stand kurz bevor. „Ich kann bestätigen, dass es einen Plan gab, Polizeibeamte zu erschießen“, sagte Staatsanwalt Erik van der Sypt. Die Telefone der Terrorverdächtigen waren zuvor überwacht worden. Nach seinen Angaben hat die belgische Terrorzelle „Verbindungen zu weiteren europaweiten Zellen gehabt“. Ein direkter Zusammenhang mit dem mörderischen Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und ein Kaufhaus für koschere Lebensmittel in Paris soll aber nicht bestehen. Einer der Attentäter von Paris hatte jedoch Verbindungen nach Belgien. Ein Mann aus der südbelgischen Stadt Charleroi hatte offenbar in den vergangenen Monaten mit Amedy Coulibaly – dem erschossenen Pariser Geiselnehmer – über den Kauf eines Autos und von Waffen verhandelt. Das Geschäft kam aber nicht zustande.

Viele Polizeiwachen waren am Freitag für die Öffentlichkeit gesperrt – aus Angst vor Anschlägen. Polizisten wurden angewiesen, unter keinen Umständen mehr allein auf Streife zu gehen. Die Bewachung an Justizgebäuden und anderen wichtigen öffentlichen Gebäuden wurde verstärkt. In Belgien hat es in der Vergangenheit eine spürbare Zunahme von Aktivitäten radikaler Islamisten gegeben. Bisheriger trauriger Höhepunkt: Im Mai vergangenen Jahres hatte ein aus Frankreich stammender Attentäter zwei Israelis und eine Französin im Jüdischen Museum in Brüssel erschossen. Nach offiziellen Angaben der belgischen Behörden sind etwa 100 islamistische Kämpfer aus Syrien zurückgekehrt, 170 weitere kämpfen noch in Syrien und im Irak, wo die radikalislamische Miliz „Islamischer Staat“ (IS) aktiv ist. Nach inoffiziellen Angaben aus belgischen Sicherheitskreisen sollen sich aber noch weitaus mehr belgische Staatsbürger dem IS angeschlossen haben, die Rede ist von bis zu 650 Personen.

Belgien hat im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße in Europa die mit Abstand meisten Rückkehrer aus Syrien und dem Irak. Besonders viele Kämpfer soll der Hassprediger Fouad Belkacem aus Antwerpen angeworben haben, der die radikalislamische Organisation „Sharia4Belgium“ aufbaute. Die Gründe für diese Entwicklung sind unerforscht. Nach Angaben von Experten könnten aber die hohe Zahl von Migranten, die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher und die mit mehr als 21 Prozent ungewöhnlich hohe Jugendarbeitslosigkeit wichtige Ursachen sein. Einer Studie des Soziologen Jan Hertogen zufolge sind etwa 25 Prozent der belgischen Bevölkerung ausländischer Herkunft, davon besitzt aber die Hälfte einen belgischen Pass.

Die belgische Hauptstadt Brüssel gilt schon seit einigen Jahren als geheime Hauptstadt des Islam. Muslime stellen zwar mit rund 900.000 Mitgliedern in Belgien eine Minderheit – in Brüssel sind sie mit mehr als einem Viertel der Gesamtbevölkerung jedoch die größte religiöse Gruppe. Der Großteil der Muslime, etwa 90 Prozent, sind Immigranten oder deren Nachkommen. Etwa ein Drittel sind türkischer, zwei Drittel marokkanischer Herkunft. Die „Exekutive der Muslime Belgiens“ (Executif des musulmans de Belgique) ist das repräsentative Organ der Muslime gegenüber dem Staat. Belgische Fachleute wehren sich gegen Klischees, wonach ihr Land eine europäische Drehscheibe für Waffen aller Art ist. „Waffen zirkulieren im gesamten Schengen-Raum relativ einfach“, kommentiert der Sicherheitsexperte André Jacob beim TV-Sender RTBF mit Blick auf den europäischen Raum für Reisen ohne Grenzkontrollen. „Es ist schwierig, die Leute zu überprüfen.“