Millionen von Menschen ist ein Leben in Frieden nicht vergönnt. Und seit einigen Jahren steigt die Zahl der gewaltsam ausgetragenen Konflikte weltweit sogar wieder

Der Messias des Christentums, Jesus von Nazareth, dessen Geburt wir nun feiern, pflegte der neutestamentlichen Überlieferung nach seine Jünger mit dem Wort „Schalom“ zu begrüßen und auch zu verabschieden. Der hebräische Begriff, eng verwandt mit dem arabischen „Salam“, steht für „wohlbehalten, glücklich und sicher sein“ – also im Frieden leben. Es ist im Wortsinne ein frommer Wunsch – denn Frieden war den meisten Menschen vor 2000 Jahren nicht vergönnt. Und er ist es vielen der siebeneinhalb Milliarden Weltbürgern des Jahreswechsels 2014/15 ebenfalls nicht.

Schweden ist das Land mit der längsten Friedenszeit – es sind nur 200 Jahre

Homo homini lupus est – ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, schrieb der römische Dichter Titus Maccius Plautus um das Jahr 200 vor Christus. Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes verwendete diese bittere Erkenntnis Mitte des 17. Jahrhunderts, um seine deprimierende Analyse des eigensüchtigen und gewalttätigen menschlichen Charakters zu illustrieren, der ohne Lenkung zum „Krieg aller gegen alle“ führe. Ausgerechnet der Wolf musste als Exempel herhalten – eines der sozialsten Tiere überhaupt. Wölfe führen keine Kriege und Vernichtungsfeldzüge, wie dies der Mensch seit Abertausenden Jahren tut. Und nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen, wie der griechische Philosoph Platon wusste. In den rund 160.000 Jahren, seitdem es den homo sapiens gibt, war Frieden ein seltener Ausnahmezustand. Das Land mit dem am längsten andauernden Frieden auf der Erde ist Schweden – doch selbst dort ist der vorerst letzte Krieg erst 200 Jahre her.

Vor einigen Jahren enthüllte ein internationales Archäologenteam unter Leitung des deutschen Wissenschaftlers Clemens Reichel in den Ruinen der uralten Stadt Hamoukar im Nordosten Syriens, unweit der irakischen Grenze, ein antikes Drama. Der 16 Hektar umfassende Kern der Metropole war einst von einer drei Meter hohen Schutzmauer umschlossen gewesen. Vor etwa 5500 Jahren zerschoss eine Belagerungsarmee, vermutlich aus dem mächtigen Uruk, Stadt und Verteidigungsanlagen mit Tausenden schweren Schleuderkugeln aus hartem Lehm. Die Mauern von Hamoukar stürzten ein; die verzweifelten Verteidiger wurden gnadenlos niedergemetzelt. Das ganze Areal war nach Erkenntnissen der Forscher „eine einzige Kampfzone“. Die Ruinen von Hamoukar sind bislang der älteste Beweis für einen systematisch geführten Krieg. Mehr als 5000 Jahre später hat sich nicht viel geändert in Syrien, das zu den ältesten Zivilisationsgebieten der Erde zählt: 1982 ließ der damalige syrische Despot Hafis al-Assad die Stadt Hama mit Artillerie zerstören und 30.000 Einwohner töten. Sein Sohn und Nachfolger Baschar gab sich zwischen 2011 und 2014 alle Mühe, es ihm in der fast 5000 Jahre alten Stadt Homs gleich zu tun.

Das Gebiet des fruchtbaren Halbmonds, wo die entscheidenden Impulse zur Entwicklung der urbanen Zivilisation, der Schrift und des Ackerbaus gegeben wurden, war auch im Jahre 2014 vielerorts eine Kriegszone – in Syrien und im Irak vor allem. Und mit dem Auftauchen der radikalislamischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wurden mit Folter, Verstümmelung und Ermordung von Zivilisten brutale Mittel der vernichtenden Kriegsführung eingesetzt, wie sie einst typisch waren für die Armeen des antiken Assyrischen Reiches, das in Mesopotamien 1000 Jahre lang Bestand hatte. Der IS feuert dieser Tage gar Kanisterbomben voller lebender Skorpione auf irakische Dörfer ab. Bereits vor 2000 Jahren hatten sich die Mesopotamier dieses Terrormittels bedient, um die römischen Invasoren in Angst zu versetzen. Krieg wurde 2014 auch im Nahen Osten, im Gazastreifen, mit erheblicher Brutalität geführt.

Und selbst in Europa zeigte sich, dass der so sicher geglaubte Frieden keinesfalls in Erz gegossen ist. Unter Bruch bilateraler und internationaler Verträge annektierte der neue russische Zar Wladimir Putin mit der Krim einen Teil der neutralen Ukraine und entsandte zudem Truppen in den Osten des Landes. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges und seiner apokalyptischen Bedrohung durch einen atomaren Holocaust und fast siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging 2014 plötzlich wieder ein Riss durch Europa, wurde die Angst vor einem Krieg offen artikuliert. Der Konflikt wird andauern – was man mit Gewalt gewinnt, kann man nur mit Gewalt behalten, hat Mahatma Gandhi gesagt. Der Fall Ukraine zeigt, dass der Firnis der Zivilisation selbst im hochzivilisierten Europa noch erschreckend dünn ist, dass Nationalismus, Machtgier und Dominanzstreben noch immer der Treibstoff für blutige Krisen sind. Ebenfalls von Gandhi stammt die Erkenntnis, dass die Welt genug für jedermanns Bedürfnisse zu bieten habe, aber nicht für jedermanns Gier.

Frieden ist weit mehr als die bloße Abwesenheit kriegerischer Gewalt

Frieden im erweiterten Sinn ist nicht nur die reine Abwesenheit kriegerischer Gewalt. Die strukturelle Gewalt mit der Unterdrückung zunehmend verzweifelter Menschen, wie sie in vielen Teilen der Erde zu beklagen ist, bildet vielerorts eine soziale Magmablase, die sich früher oder später eruptiv Bahn brechen wird. Das kann in China sein, in Nordkorea oder erneut in der arabischen Welt, wo der kurze „Frühling“ in einen langen Winter überging.

Die tödliche Ideologie des militanten Dschihadismus, die immer wieder für Kriege sorgt und weiterhin sorgen wird, ist die falsche Antwort auf eine immer komplexer werdende, sich ständig verändernde Welt mit permanent neuen Herausforderungen. Die salafistische Rückwendung zu den schlichten Regeln des Gründerzeitislams des siebten Jahrhunderts ist sogar für manche Menschen in den Randlagen der westlichen Zivilisation eine Droge. Und die Entwurzelten der islamischen Welt sehen darin ihre Rettung. Dabei nehmen sie in Kauf, dass diese Ideologie jede freie, kritische Entwicklung des Menschen, wie sie die europäische Aufklärung fordert, erstickt und die Jünger des Dschihad zu geistigen Drohnen degradiert. Die Front verläuft derzeit noch in erster Linie zwischen dem Westen und dem Dschihadismus, doch mehr und mehr setzt sich auch unter Muslimen die Erkenntnis durch, dass diese Strömung mit ihrer zersetzenden Wirkung weit bedrohlicher für den toleranten Islam als für den Westen ist.

Der „Kampf der Kulturen“, den der US-Politologe Samuel Huntington 1996 den Zivilisationen der Welt, namentlich der christlichen und der islamischen, voraussagte, verläuft inzwischen ebenso innerhalb des Islam. Dieser ist geisteswissenschaftlich wie kulturell insgesamt ein reiches Füllhorn; die maligne Entartung des militanten Islamismus jedoch hat außer intoleranter Frömmelei und Gewalt auf keinem Gebiet etwas zum Gedeihen einer Zivilisation beizutragen, weder wissenschaftlich noch wirtschaftlich noch kulturell. Der Salafismus von IS und Co. ist eine Sackgasse. Der Terrorangriff der pakistanischen Taliban auf eine Schule in Peschawar mit der Ermordung von mehr als 130 Kindern zeigt, wie gefährlich die Perspektivlosigkeit derartiger Radikaler auch in Zukunft werden kann:

In Ermangelung realistischer Ziele geht es nur noch darum, blankes Entsetzen zu verbreiten. Und sei es, indem man unter den wehrlosesten aller Opfer wütet. Es ist ein verstörender zivilisatorischer Offenbarungseid.

Weltweit haben Forscher im Jahre 2014 mehr als 400 Konflikte gezählt; mehr als 40 davon wurden als hoch gewaltsam eingestuft. Rund 20 dieser Konflikte waren echte kriegerische Auseinandersetzungen – unter anderem in Syrien, im Irak, in der Ukraine, in Afghanistan, im Südsudan, in Nigeria, in Libyen. Es sind etwas mehr als früher, weil nach dem Ende des Kalten Krieges viele innerstaatliche Konflikte nach langem Schwelen ausgebrochen sind. Und weil auch heute viel mehr Informationen über Konfliktherde irgendwo auf der Welt verfügbar sind.

Forscher haben 2014 mehr als 40 hoch gewaltsame Konflikte gezählt

Doch zu konstatieren, die Welt des anbrechenden Jahres 2015 mit ihren multiplen Konfliktszenarien sei viel gewalttätiger als frühere Epochen, ist falsch. Im Gegenteil. Sowohl der britische Archäologe und Historiker Ian Morris, Professor an der US-Eliteuniversität Stanford, als auch der kanadisch-amerikanische Evolutionspsychologe Steven Pinker, Professor in Harvard, kommen in umfangreichen Büchern zu dem Ergebnis, dass die einst unfassbar gewalttätige Welt, insgesamt betrachtet, nie so friedlich war wie heute. Morris setzt die Mortalitätsrate durch Gewalt bei Steinzeitmenschen mit 20 Prozent an; jeder fünfte Mensch also kam gewaltsam ums Leben. Und auch während der folgenden Jahrtausende blieb diese Rate sehr hoch, während es heute gerade noch 0,7 Prozent sind – ungeachtet aller Kriege und Konflikte, die uns auch im Jahre 2015 beunruhigen werden.