In dem nordafrikanischen Land begann der Arabische Frühling, es bleibt auf dem Weg zur Demokratie – und hat jetzt einen neuen Präsidenten

Tunis. Bei einer Botschaft sind sich selbst die Rivalen einig. „Tunesien hat gewonnen“, resümieren weltlich ausgerichtete und auch islamistische Politiker am Tag nach der Präsidentenwahl in Tunesien gleichlautend. Die Abstimmung am Sonntag stand am Ende einer Phase der Demokratisierung des nordafrikanischen Landes, die nach der sogenannten Jasminrevolution vor vier Jahren eingeleitet worden war. Sie endete mit der Absetzung des langjährigen Herrschers Zine al-Abidine Ben Ali – und war der Auftakt des Arabischen Frühlings, einer Reihe weiterer Umwälzungen in der arabischen Welt. Doch in Ägypten herrscht mittlerweile ein Militär, in Libyen nach Muammar al-Gaddafi bekämpfen sich rivalisierende Gruppen. Tunesien ist der einzige Hoffnungsträger in der von Konflikten gebeutelten arabischen Welt. Das Land hat eine moderne Verfassung, ein frei gewähltes Parlament und nun auch einen neuen Präsidenten.

Der 88 Jahre alte Politikveteran Béji Caïd Essebsi hat das Rennen um die Präsidentschaft von Tunesien offiziell gewonnen. Wie die Wahlkommission am Montagnachmittag mitteilte, bekam Essebsi bei der Stichwahl 55,68 Prozent der Stimmen. Sein Gegenkandidat, der bisherige Übergangsstaatschef Moncef Marzouki habe 44,32 Prozent erhalten, hieß es. Die Wahlbeteiligung lag bei 60 Prozent. Bei der Parlamentswahl im Oktober war bereits Essebsis Partei Nida Tunis zur stärksten Kraft geworden. Kritiker sehen daher eine zu große Machtfülle für Essebsis Partei.

Doch schon jetzt ist klar: Die neue Führung wird nicht lange bestehen, wenn sie nichts gegen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Land tut. Denn die Lage der sozial Schwachen hat sich seit dem Dezember 2010, als sich ein junger Straßenhändler aus Verzweiflung selbst anzündete und damit die Jasminrevolution in Gang brachte, eher noch verschlechtert.

Schätzungsweise 15 Prozent der rund elf Millionen Tunesier leben in Armut. Fast täglich gibt es Streiks. Die Arbeitslosigkeit ist insbesondere unter jungen Tunesiern hoch. Lokale Medien berichteten, dass viele von ihnen die Wahlen boykottierten. Gutverdiener – wie Anwälte oder Ärzte – zahlen häufig ihre Steuern nicht. Die Staatskassen sind leer, selbst die Auszahlung der Beamtengehälter war zeitweise gefährdet.

Eine rasche Lösung ist nicht in Sicht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank dringen auf mehr Wettbewerb und die Streichung von staatlichen Subventionen – zum Beispiel für elektrischen Strom und Benzin. Diesen Forderungen aber wird die künftige Regierung wohl nicht so schnell nachkommen, glaubt der Tunesien-Experte der Risikounternehmensberatung Control Risks, Geoffrey Howard. „Wenn zum Beispiel die wichtigsten Posten angegangen würden – wie Subventionen oder öffentliche Gehälter –, würde man eine massive Destabilisierung riskieren“, sagt er.

Auch politisch gibt es Zündstoff. Der tunesische Historiker Adel Ltifi schreibt in einem Beitrag für das Netzwerk arabischer Analysten, der Arab Reform Initiative, von einer zunehmenden Polarisierung zwischen den modernen und den traditionellen Kräften im Land. Der Erfolg der jungen Allianz Nida Tunis bei der Parlamentswahl im Oktober stehe für eine Entscheidung der Tunesier für einen modernen Nationalstaat und gegen den politischen Islam. Aus der ersten freien Wahl 2011 war noch die islamistische Ennahda als stärkste Kraft hervorgegangen.

Der Control-Risks-Analyst Howard sieht in der Dominanz der Nida Tunis aber auch ein gewisses Risiko: zu viel Macht in den Händen eines einzigen politischen Blocks. Und sollte die Ennahda – heute zweitstärkste Fraktion im Parlament – im politischen Prozess ausgeschlossen werden, drohe die Lage sehr kritisch zu werden. „Die Kluft zwischen Islamisten und Säkularen könnte sich weiter vergrößern, was islamistische Extremisten wiederum zu mehr Gewalt animieren würde“, sagt Howard. Schon jetzt gibt es auch in Tunesien regelmäßig Anschläge und Übergriffe von Dschihadisten auf das Militär und die Polizei.

Auch der Vorabend der Stichwahl wurde von Gewalt überschattet. In der Nähe der Stadt Kairouan wurde ein Soldat bei einem Angriff von einem Schuss verletzt. Die Gewalttäter kehrten am Sonntagmorgen zurück und versuchten ein Wahllokal anzugreifen. Die Armee tötete einen von ihnen und nahm drei fest. Extremisten hatten zuvor in einem Video zum Wahlboykott aufgerufen und Attacken auf Sicherheitskräfte angekündigt. Nach offiziellen Angaben sicherten rund 100.000 Polizisten und Soldaten die Wahllokale.

Westliche Staaten hoffen auf Tunesien als einen Stabilitätsanker in Nordafrika und in der gesamten arabischen Welt. Die etwa 250 in Tunesien tätigen deutschen Unternehmen sehen nach Angaben des Geschäftsführers der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer, Martin Henkelmann, die Lage vorsichtig optimistisch. „Auch wenn manche unter wilden Streiks gelitten haben, sehen sie positive Anzeichen für eine gute Entwicklung und sind dem Land treu geblieben.“ Nun sei es wichtig, dass es eine Regierung gebe, die sage, in welche Richtung sie gehen wolle. Er mahnt zugleich zu etwas Geduld: „Hier ändert sich momentan die Welt.“

Das Wirtschaftsmagazin „The Economist“ kürte Tunesien trotz aller Widrigkeiten zum „Land des Jahres 2014“. Die Begründung: „Tunesiens Pragmatismus und Moderation haben die Hoffnung genährt in einer desolaten Region und einer unruhigen Welt.“