Der Migrant ist ein Opfer, der Westen gibt Milliarden aus für Krisenmanagement. Ein Hamburger Verein fordert ein radikales Umdenken: Aus Hilfslagern müssen funktionierende Städte werden. Aber ist das machbar?

Hamburg. Kilian Kleinschmidt lehnt sich aus seinem Sessel in der Hamburger Hotellobby nach vorne und zeigt auf den rosa leuchtenden Brunnen auf dem Foto. „Das ist in meinem Lieblingsrestaurant.“ Er war öfter dort, syrische Küche. Plastiktische reihen sich aneinander, Blumen stehen auf dem Beton unter dem flachen Dach. „Ich hasse das Wort Lager“, sagt Kleinschmidt. „Das klingt so, als könne man Menschen einfach abstellen wie einen Besen in der Kammer. Das klingt nach Massenware. Aber hier, der rosa Brunnen. Das sind Menschen, das sind ihre Ideen.“

Das Restaurant mit dem Brunnen liegt mitten im Flüchtlingscamp Saatari in Jordanien. 80.000 Menschen leben hier, so viele wie in Neumünster. Manchmal kamen 3000 Menschen pro Nacht, geflohen aus Syrien, vor dem Krieg zwischen Diktator Assad, den Milizen der Opposition und Terrorgruppen. Zelte und Container reihen sich bis zum Horizont. Vor fast zwei Jahren hatten die Vereinten Nationen Kleinschmidt zum Leiter des Flüchtlingslagers gemacht. Es gab Unruhen, Chaos drohte. Kleinschmidt, der Deutsche, sollte für Ordnung sorgen.

Heute ist auf dem Wüstensand eine Marktwirtschaft entstanden. Im Lager Saatari gibt es zwei Supermärkte mit mehr als 30 Mitarbeitern, einen Juwelier, der Goldringe schmiedet für die Hochzeiten. Innenausstatter verkaufen Möbel, Elektrogeschäfte Flachbildfernseher. Es gibt einen Pizza-Lieferservice, Friseure und eine Reiseagentur. 2500 Geschäfte insgesamt, ein Handelsvolumen von zehn Millionen Euro pro Monat, sagt Kleinschmidt. Sie nennen die Einkaufsstraße den Champs-Élysées, so wie den Prachtboulevard in Paris. „Eigentlich ist das eine kleine Stadt.“ Mitten in der Wüste. Jeden Tag knirscht der feine Staub zwischen den Zähnen. Für Kleinschmidt ist Saatari zum Prototyp für seine Idee geworden.

Es herrscht ein unverrückbares Bild vor: Der Flüchtling ist ein Opfer. Die Not treibt ihn dazu, die Heimat zu verlassen. Meistens nicht mit viel mehr als einem Koffer als Gepäck, Reste des alten Lebens. Der Westen versorgt die Flüchtlinge in ihrer Not, Wasser aus Kanistern, Säcke mit Reis, ein Dach über dem Kopf. Das Nötigste zum Überleben. Für alle die gleichen Rationen. Standards erleichtern die Logistik, das war lange das Mantra im Krisenmanagement der Flüchtlingshilfe.

Die Wohlhabenden tragen Verantwortung für die Notleidenden – es ist der Konsens einer zivilisierten Welt. Das ist teuer, muss aber sein. Um seine Aufgaben für den weltweiten Flüchtlingsschutz vollständig erfüllen zu können, kalkuliert das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) mit 3,59 Milliarden US-Dollar. Kilian Kleinschmidt sagt: „Dieses System ist nicht nur teuer, es ist auch falsch.“

Flüchtlingshilfe muss mehr sein als das Aushändigen von Wolldecken, sagt er. Kleinschmidt will Unternehmergeist wecken in den Flüchtlingscamps wie Saatari in Jordanien. Er erzählt von zwei jungen Männern aus Syrien, verwundet im Krieg, sie flohen nach Saatari. Nachdem es den beiden besser ging, wollten sie anderen Verwundeten helfen. Und bastelten Prothesen für Arme und Beine. Heute arbeiten die Männer mit 3-D-Druckern, die wie Maschinen Ersatzarme ausdrucken. „Das kostet 20 Dollar statt 1000“, sagt Kleinschmidt. So müsse das laufen. Die Stadt Amsterdam hat Hunderte Fahrräder gesponsert. Jetzt wird Saatari mobil. Kleinschmidt hat 2012 in Hamburg gemeinsam mit anderen einen Verein gegründet, der sich diesem Ideal verschrieben hat. More than shelters, mehr als nur ein Dach über dem Kopf, so könnte man das übersetzen.

Kleinschmidt plant Kooperationen mit Städten oder Unternehmen in Europa und den USA, die ihm dabei helfen sollen, aus einem Notlager eine funktionierende Siedlung zu formen. Am Ende vielleicht eine Stadt. „Würden wir Lösungen nur für ein paar Monate suchen, wäre alles einfacher.“ Aber durchschnittlich stehe ein Flüchtlingscamp 20 Jahre, ein Flüchtling lebe heute zwölf Jahre in einem Lager.

Wie organisieren Hilfsorganisationen den Alltag von Menschen in Notsituationen? Es geht um Normalisierung. Und um Würde. Kleinschmidt stelle mit seinem Verein die richtigen Fragen, sagt Ralf Südhoff, Leiter des Berliner Büros des World Food Programms der Vereinten Nationen (WFP). Kleinschmidt will die Hilfe reformieren. Doch auch andere Organisationen verteilen nicht mehr nur täglich Reis und Wolldecken.

Südhoff erzählt von Kreditkarten, die sie an Flüchtlinge verteilt haben in den Camps in Jordanien, dem Libanon und der Türkei. Essen, Wasser oder Kleidung müssten nicht mehr aufwendig aus Europa angeliefert werden. „Flüchtlinge entscheiden selbst, was und wie viel Nahrung sie kaufen und welches Hemd sie mögen.“ Die Kredite werden von den Organisationen auf die Karten geladen. „Diese Selbstständigkeit gibt den Menschen ein Stück Würde zurück.“ Und es treibt die lokale Wirtschaft an. 500 Millionen Dollar hätten Flüchtlinge in den vergangenen Jahren mit den Kreditkarten in den Nachbarländern Syriens umgesetzt.

Das Flüchtlingscamp als Stadt, die Flüchtlinge als Wirtschaftskraft – ist das der richtige Weg in Zeiten von Dauerkrisen in Nahost, Afrika und Osteuropa? Den Gedanken halten Experten der Hilfsorganisationen für fortschrittlich. Aber sie haben auch Zweifel an Kleinschmidts Visionen. Denn kaum eine Regierung von Staaten wie Jordanien sei daran interessiert, Flüchtlingslager auf Dauer in Siedlungen umzubauen.

Würde Deutschland mit seinen gut 80 Millionen Einwohnern so vielen Menschen Obdach geben wie der Libanon, würden hier 20 Millionen Syrer leben. Die Last der Länder in Nahost ist groß. Gerade deshalb wollen die Regierungen die Flüchtlinge zurückschicken, sobald die Kriege beendet sind. Die Ideen von Kleinschmidt seien deshalb bereits auf Widerspruch gestoßen, erzählt ein Flüchtlingshelfer.

Zudem sehen andere Experten die Gefahr, dass durch Investitionen in Flüchtlingscamps das Lebensniveau in den Lagern über dem Standard der umliegenden Dörfer oder Städte liegen könnte. „In manchen Krisenregionen sind die Flüchtlinge teilweise besser mit Lebensmitteln, Schulen und Ärzten versorgt, als die verarmten Einwohner in der Nähe“, sagt Südhoff vom WFP. Er zweifelt zudem daran, dass große Unternehmen aus Deutschland oder den USA in ein Land mit Hunderttausenden Flüchtlingen wie dem Sudan, Irak oder Libanon investieren würden, zu instabil sei die politische Lage. Und wer würde überwachen, dass kein Lohndumping betrieben wird oder Arbeitsrechte missbraucht werden?

Kleinschmidt sieht Chancen – und weniger Risiken. „Die umliegenden Städte müssen profitieren.“ Staaten wie Jordanien würden massenhaft Arbeitsplätze fehlen. Die Flüchtlinge seien motiviert und oftmals gut ausgebildet. „Diese Menschen können für die Staaten in Nahost eine relevante Kraft sein.“

In dem Camp Saatari hat Kleinschmidt als Leiter bewiesen, dass er Notsituationen managen kann. Eine Mafia trieb dort illegalen Handel, auch Schmuggel, und drohte Widersachern mit Gewalt. Kleinschmidt hielt dagegen: mit legalen Geschäften. Er half schon in Somalia und im Kongo, rettete Flüchtlinge mit einer alten Dampflok aus dem Dschungel. Er half auch in Sri Lanka und im Kosovo. Für das UNHCR war Kleinschmidt so etwas wie ein Sondereinsatzkommando, wenn andere sich vor Schreck wegduckten. Ganz am Anfang seiner Helferbiografie aber steht ein Treffen in einer Bar in Mali. Zwei Entwicklungshelfer überredeten ihn nach vielen Bieren, an einer Schule in der Wüste mitzubauen. Kleinschmidt brach seinen Motorad-Trip durch die Sahara ab und sagte zu.

Kleinschmidt, sagen manche Mitarbeiter von Organisationen, könnte ein neues Gesicht der humanitären Hilfe werden. Ein Abenteurer, genauso aber ein Macher. Spricht Kleinschmidt heute über seine Ideen, klingt er wie ein Unternehmensberater. Er redet von Innovation und sozialem Investment.

Kleinschmidt ist gerade viel unterwegs in der sicheren Welt des Westens – auf der Suche nach Unternehmen und Fachleuten, die ihm bei seiner Vision helfen wollen. Er tourt durchs Fernsehen und schläft in Hotels. Am Anfang des Gesprächs erzählt er vom Gestank in Flüchtlingslagern. Davon, dass Menschen furchtbar riechen, wenn sie Angst haben. Dann schaut er in die Hotellobby, sieht die großen Panoramafenster und die schicke Bar. „Manchmal muss ich mich erst noch daran gewöhnen“, sagt Kleinschmidt.