Vor einem Jahr begannen die Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew

Hamburg/Kiew. „Das war ein regnerischer Abend, an dem man besser zu Hause bleibt“, sagt die Bürgeraktivistin aus Kiew, Maria Tomak. „Ehrlich gesagt, ich habe nicht erwartet, dass das nicht unterzeichnete EU-Abkommen solche Wirkung auf die ukrainische Gesellschaft haben wird. Und noch eine Woche vorher habe ich ein Foto gemacht, wie viele Leute an einer Demonstration für die Unterstützung der EU-Integration der Ukraine teilgenommen haben – ungefähr zehn. Trotzdem war der 21. November 2013 eine Explosion der Empörung. Und ich bin auch auf den Maidan gegangen.“

Am 21. November 2013 hatte der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU überraschend auf Eis gelegt. Am Abend schrieb der ukrainische Journalist Mustafa Najem auf Facebook: „Treffen um 22.30 Uhr am Monument der Unabhängigkeit.“ Ein paar Hundert Menschen folgten diesem Aufruf. Und jeden weiteren Tag erschienen auf dem Maidan, dem großen Platz im Zentrum Kiews, mehr Menschen.

„Es ging um die Ehre, Janukowitsch hat die Menschenwürde angegriffen“, erzählt der Programmierer und Bürgeraktivist Andriy Zhupnuk, der später bei Gefechten auf der Hruschewskoho-Straße einen Arm verlor. „Das Land war in Korruption versunken, die Regierung hat den Staat einfach ausgeplündert. Und die Geschichte mit dem nicht unterzeichneten EU-Abkommen war wie eine Ohrfeige. Deswegen bin ich mit meinen Kollegen nach Kiew gefahren, um dafür zu demonstrieren, dass die Menschen in der Ukraine selbst über ihr Schicksal entscheiden wollen.“

Seit diesem Tag ist Andriy auf dem Maidan geblieben – auch als es im Februar schwere Zusammenstöße zwischen Polizei und Regierungsgegnern gab. Auf die Frage, ob er bedauert, dass er dort war, weil er seinen Arm verloren hat, antwortet Andriy mit einem klaren Nein. „Das dauerte eine Sekunde, dann begriff ich, dass ich verletzt war. Aber andere Männer haben mir geholfen und mich ins Krankenhaus gebracht.“

Später ist Andriy zur Behandlung nach Polen und Österreich gereist. Jetzt überlegt der Aktivist, ob er in die Politik gehen soll. Er glaubt, dass der Gesellschaft noch viele Änderungen bevorstehen. Die Justiz sei weiterhin korrupt, dabei sollte es im Strafverfolgungssystem Reformen geben. Zudem sitzen die Täter, die die Demonstration beschossen hatten, immer noch nicht im Gefängnis.

Die Mitbegründerin der Bürgerrechtsorganisation Euromaidan-SOS, Maria Tomak, betont, dass die Bestrafung der Verantwortlichen für die blutigen Ereignisse auf dem Maidan eine zentrale Frage für die Entwicklung der Ukraine ist. Auf dem „alten kriminellen Grund“ sei es nicht möglich, ein neues Staatssystem zu bilden. Dieser Meinung ist auch Video-Reporter Iwan Ljubysh-Kirdej. Iwan vertritt auch den Standpunkt, dass die Abgeordneten, die seiner Meinung nach den Befehl gaben, dass auf die Menschen geschossen werden soll, verhaftet werden müssten.

Für manche Ukrainer hat die Revolution ihr ganzes Leben verändert. Zum Beispiel für Kateryna Zhemtschuzhnikowa. Sie hat noch im November in Donezk die lokale Gruppe Euromaidan organisiert. „Niemand konnte sich vorstellen, dass in drei Monaten mehr als 100 Menschen bei den Gefechten auf dem Unabhängigkeitsplatz sterben werden, die Krim annektiert wird und im Osten der Krieg herrschen wird. Aber damals konnten wir nicht schweigen. Wir alle wollten die Veränderungen in der Ukraine“, erzählt Kateryna.

Nun hängt ihr Foto an der „Tafel der Schande“ im von prorussischen Separatisten besetzten Gebäude der Staatsverwaltung in Donezk. Die Menschen, die unter Einfluss der russischen Propaganda stehen, hätten ihr immer wieder gedroht. Deshalb sei sie nach Kiew gezogen. „Dieses Jahr war so intensiv“, fasst die Journalistin zusammen, „es scheint, dass all dies in einem vorherigen Leben geschehen ist. Obwohl die Situation jetzt ganz kompliziert ist, war der Euromaidan nicht vergeblich.“

In der Ukraine spricht man auch von der „Revolution der Würde“, weil die ganze Gesellschaft aufgeweckt wurde. „Der Maidan hat uns Zuversicht gegeben und uns gezeigt, dass jeder Mensch für seine Zukunft selbst verantwortlich ist“, meint der Programmierer und Musiker Markijan Matsekh, der als „Pianomann“ berühmt wurde. Er spielte während der Revolution Auge in Auge mit der Polizeisondereinheit „Berkut“. „Jetzt fühle ich mich völlig anders als vor einem Jahr“, sagt Markijan. „Wir bemühen uns, dass die Ukraine sich ändert und entwickelt. Wir haben eine Pflicht, eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die auf dem Maidan gestorben sind.“