Russischer Präsident nahm in ARD-Interview mit Hubert Seipel Stellung zur Ukraine-Krise. In dem Interview, das bei Günther Jauch gezeigt wird, warnt Putin den Westen vor „Bumerang“ bei Sanktionen.

Berlin/Moskau/Sydney. Der russische Präsident Wladimir Putin hat sein Vorgehen in der Ukraine-Krise verteidigt und die Rolle des Westens kritisiert. In einem am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Günther Jauch“ (5,61 Millionen Zuschauer/20,0 Prozent Marktanteil) ausgestrahlten Interview mit NDR-Journalist Hubert Seipel sagte Putin, bei der Eingliederung der ukrainischen Halbinsel Krim in die Russische Föderation handle es sich nicht um einen Bruch des Völkerrechts. Die als Reaktion daraufhin verhängten Sanktionen bezeichnete Putin als „völlig inadäquat“.

Russische Soldaten hätten die auf der Krim stationierten ukrainischen Streitkräfte vielmehr blockiert, damit die dort lebenden Menschen unter militärischem Schutz per Volksabstimmung über ihre Zukunft entscheiden konnten, sagte Putin in der ARD. Es sei darum gegangen, „Blutvergießen zu vermeiden“. Im Gegensatz zum Kosovo, wo die Unabhängigkeit nur durch Parlamentsbeschluss erklärt worden sei, habe es auf der Krim ein Referendum gegeben. In Fragen der Selbstbestimmung sei ein Volk auch nicht verpflichtet, die Zentralregierung nach deren Meinung zu fragen. „Ich bin fest davon überzeugt, dass Russland gegen das Völkerrecht in keiner Weise verstoßen hat“, sagte Putin über die russische Annexion der Krim. Im Anschluss an die Interview-Ausstrahlung sagte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) bei Günther Jauch, sie sei erstaunt, dass Putin erstmals so offen die Krim-Annexion eingestanden habe.

Neben von der Leyen und Seipel analysierten in der Talkrunde auch die ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD und heutige WDR-Chefredakteurin Sonia Seymour Mikich sowie der Historiker Heinrich August Winkler die Putin-Aussagen. „Günther Jauch“ hat ausnahmsweise eine Länge von 75 Minuten.

Seipel („Ich, Putin“, 2012; Deutscher Fernsehpreis 2014 für sein Interview mit Edward Snowden) hatte sich mit Unterstützung des NDR seit Monaten um ein Fernsehinterview mit dem russischen Staatspräsidenten bemüht. Ob es zustande kommen würde, war bis zuletzt völlig offen. Kurzfristig bot das russische Präsidialamt eine Interviewmöglichkeit am vergangenen Donnerstagabend (13. November) in der Hafenstadt Wladiwostok am Pazifik an. Am Freitagabend traf Hubert Seipel wieder in Hamburg ein.

Putin will deutsch-russische Beziehungen bewahren

In dem Interview warnte Putin zudem vor globalen Folgen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Was im Kontext der Strafmaßnahmen passiere, schade „der globalen Wirtschaft“, sagte Putin. „Vor allem schadet es den Russland-EU-Beziehungen.“ Putin warnte, die Sanktionen könnten für den Westen zum „Bumerang“ werden. Wenn Russland weniger Zugang zum Kapitalmarkt habe, schädige das westliche Exporte. „Früher oder später wird es Sie genauso treffen wie uns.“ Russland sei gewillt, normale Beziehungen mit all seinen Partnern, auch den USA und Europa, zu führen.

Putin warnte gleichzeitig davor, wegen der Ukraine-Krise die Fortschritte in den deutsch-russischen Beziehungen zu gefährden. Die Stimmung zwischen den beiden Staaten sei in den vergangenen Jahren so gut wie nie zuvor gewesen, sagte Putin laut Übersetzung des Senders.

Furcht vor „nationalistischen Bataillonen“

Zur Minsker Waffenstillstandsvereinbarung von Anfang September sagte Putin, bei deren Umsetzung gebe es Probleme. Tatsächlich würden einige Ortschaften im Südosten der Ukraine, aus denen bewaffnete Truppen der Milizen abziehen sollen, nicht geräumt. Das liege daran, dass die Menschen diese Dörfer als ihre Heimat sähen. Sie befürchteten, bei ihrem Abzug würden „nationalistische Bataillone“ einmarschieren und ihre Angehörigen töten. Andererseits räume auch die ukrainische Armee nicht wie vereinbart bestimmte Gebiete. Putin äußerte außerdem seine Angst vor „ethnischen Säuberungen“ in der Ukraine.

Zum Umsturz in Kiew im Februar sagte Putin, ein „großer Teil des Landes“ habe den Machtwechsel in der Erwartung unterstützt, ein Assoziierungsabkommen mit der EU werde Grenzen öffnen und die Arbeitsaufnahme in der EU ermöglichen. Ein anderer Teil der Ukraine habe den Wechsel nicht unterstützt und die aus ihm hervorgegangene prowestliche Regierung nicht anerkannt.

Was die Bewaffnung der Gegner Kiews betreffe, so würden „Menschen, die einen Kampf führen“ und diesen Kampf als gerecht empfinden, „immer Waffen finden“, sagte Putin. Der Westen hatte Moskau wiederholt vorgeworfen, die Separatisten mit Waffen und Kämpfern zu unterstützen. Putin war außerdem dafür kritisiert worden, seinen Einfluss nicht genutzt zu haben, um zu einer Beruhigung der Lage beizutragen. Er frage dann immer: „Und was haben Sie gemacht, um auf Ihre Klientel in Kiew Einfluss zu nehmen?“, sagte Putin. Notwendig sei die Suche nach gemeinsamen Lösungen.

Unterdessen forderte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Debatte über weitere Sanktionen gegen Russland. Es sei „wichtig, dass die Möglichkeit von neuen Sanktionen wieder auf dem Tisch liegt“, sagte er der „Bild“-Zeitung vom Montag. „Wir wollen Russland nicht schaden, aber wir brauchen ein Instrument, damit die Unterstützung für die Separatisten aufhört und der Friedensvertrag umgesetzt werden kann.“ Von der EU forderte Poroschenko „technische militärische Unterstützung“. In Brüssel beraten am Montag die EU-Außenminister über ihre Strategie im Ukraine-Konflikt.

Merkel kritisiert Putin scharf

Derweil hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) überraschend deutlich vor einem großen Flächenbrand durch die Ukraine-Krise gewarnt. Die Kanzlerin nutzte während ihres Besuchs im australischen Sydney eine außenpolitische Rede für schärfste Kritik an Putin, den sie am Rande des G20-Gipfels in Brisbane unter vier Augen getroffen hatte.

Mit Blick auf den mutmaßlichen Abschuss des malaysischen Flugzeugs MH17 über der Ukraine sagte sie: „Die Ukraine-Krise ist wahrlich keineswegs allein eine regionale Angelegenheit. Nein, an diesem Beispiel sehen wir: sie betrifft uns alle.“ Für Georgien, Moldawien und Serbien sah sie besondere Risiken.

In altem Denken sehe Russlands die Ukraine als seine Einflusssphäre und trete das internationale Recht mit Füßen, sagte sie vor mehreren hundert Zuhörern beim Lowy-Institut für internationale Politik, einem der renommiertesten sogenannten Think Tanks in Australien. „Das stellt nach den Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung insgesamt infrage. Und es findet seine Fortsetzung in der russischen Einflussnahme zur Destabilisierung der Ostukraine.“

„Keine Wiederbelebung der DDR-Zeiten“

Sie wolle keine Wiederbelebung der DDR-Zeiten, als ohne Moskaus Zustimmung keinerlei Bewegung möglich gewesen sei, sagte Merkel. Das sei mit den westlichen Werten nicht zu vereinen. „Es geht ja nicht nur um die Ukraine. Es geht um Moldawien, es geht um Georgien, wenn es so weiter geht, kann man fragen, muss man bei Serbien fragen, muss man bei den Westbalkanstaaten fragen.“

Putin verweigere eine Konfliktlösung im gegenseitigen Respekt und mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln. Er setze auf das angebliche Recht des Stärkeren und missachte die Stärke des Rechts. Dennoch werde die Europäische Union nichts unversucht lassen, mit Russland zu einer diplomatischen Lösung zu kommen.

Merkel hatte zuvor vier Stunden mit Putin gesprochen. Es sei „sehr allgemein und grundsätzlich noch einmal über den gesamten Konflikt“ gegangen, sagte sie. Man müsse mit Putin im Dialog bleiben. Neue Sanktionen gegen Russland soll es vorerst nicht geben. Es sei „unübersehbar“, so Merkel, dass die „geopolitischen Spannungen, zu denen auch das Verhältnis zu Russland gehört, nicht gerade wachstumsfördernd sind“.

Auf dem G20-Gipfel hatte sich Putin auch mit den anderen westlichen Staats- und Regierungschefs einen harten Schlagabtausch geliefert. Mit Blick auf den Ukraine-Konflikt nannte US-Präsident Barack Obama den Kremlchef einen „Aggressor“. Dieser wiederum warf den Nato-Staaten vor, immer weiter in die russische Interessensphäre vorzustoßen. Dies werde er nicht hinnehmen. Am Sonntag reiste Putin vorzeitig ab – er brauche Schlaf, sagte er.