100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs stoßen Touristen in der bosnischen Hauptstadt nicht nur auf die Schauplätze des Attentats auf Franz Ferdinand, sondern auch auf die kaum vernarbten Wunden eines erst zwei Jahrzehnte zurückliegenden Kriegs

Den ganzen Tag über sieht man die gleiche Szene: Immer wieder stellt sich jemand genau an die Stelle, an der es geschah. Amerikanische Rucksacktouristen, französische Rentner, eine Reisegruppe aus Italien, zwei Schulklassen aus Bana Luka und ein älteres Ehepaar, das aus Sydney angereist ist, sie alle lassen sich an der Straßenecke fotografieren. Die ins Pflaster eingelassenen nachempfundenen Fußabdrücke von Gavrilo Princip, die zu jugoslawischer Zeit den Standort jenes Mannes markierten, der vor 100 Jahren den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand samt Gattin erschoss, sind zwar verschwunden, aber die historisch so bedeutsame Stelle lässt sich trotzdem leicht finden.

Jenseits der viel befahrenen nördlichen Uferstraße überspannt die Lateinerbrücke die Miljacka, die eher ein größerer Bach als ein Fluss ist. Auch auf der Brücke stehen fast immer Touristen, denn von hier aus hat man alle wichtigen Schauplätze jenes Attentats im Blick, das am 28. Juni 1914 Europa erschütterte und zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde. Wer nach links blickt, sieht die Cumurija-Brücke, an der der Selbstmordattentäter Nedeljko Cabrinovic stand, der eine Handgranate auf das vorbeifahrende Auto des österreichisch-ungarischen Thronfolgers warf, diesen aber verfehlte. Blickt man nach rechts, ist das großartige, zum Jubiläum frisch restaurierte Gebäude des alten Rathauses nicht zu übersehen, in dem ungeachtet des Vorfalls anschließend ein kurzer Empfang stattfand. Als das Paar danach das Gebäude verließ, entstand auf der Treppe das berühmte letzte Foto, das Franz Ferdinand und Sophie lebend zeigt. In letzter Minute änderte man damals die Route, wollte die Innenstadt auf der Uferstraße wieder verlassen. Da man aber ausgerechnet die Fahrer nicht informiert hatte, bog die Kolonne an der Lateinerbrücke zunächst rechts in die Franz-Josef-Straße ein, wo sie aber schnell gestoppt wurde. Dabei kam der zweite Wagen, in dem Franz Ferdinand und Sophie saßen, vor dem Feinkostgeschäft Moritz Schiller zum Stehen, an dem der 19 Jahre alte Verschwörer, der Serbe Gavrilo Princip, wartete, der zwei Schüsse abgab und damit erst Sophie und dann Franz Ferdinand tödlich traf.

Aus dem historischen Ereignis soll touristisches Kapital geschlagen werden

Heute ist das Feinkostgeschäft ein kleines Museum, das an das Attentat erinnert. Gleich im Eingang findet man auch die Platte mit den angeblichen Fußabdrücken von Princip, die zu Titos Zeit ins Pflaster eingelassen war. Im Museumsshop kann man T-Shirts und Kaffeebecher kaufen, wahlweise mit den Porträts von Princip oder Franz Ferdinand. Die Ausstellung zeigt sonst historische Bilder und Dokumente sowie die lebensgroßen Wachsfiguren des ermordeten Paares vor einer Fototapete mit der Fassade des Rathauses, eine dreidimensionale Inszenierung des letzten Fotos. Man hat der Lateinerbrücke, die zur jugoslawischen Zeit nach dem Attentäter benannt war, ihren alten Namen zurückgegeben und verzichtet auch sonst auf jeden Heldenkult, stattdessen wird versucht, aus dem historischen Ereignis eher touristisches Kapital zu schlagen. Aber die Verhältnisse in dem höchst komplizierten und in vielerlei Hinsicht belasteten Staat Bosnien Herzegowina sind auch in dieser Frage gespalten. Zu 51 Prozent besteht dieses Land aus der Bosnisch-Kroatischen Föderation, 49 Prozent gehören zur Republika Srpska. Offiziell ist es ein Staat, dennoch gibt es zwei Verwaltungen, zwei Schulsysteme, zwei Polizeiorganisationen. In der Föderation verwendet man lateinische, im serbischen Teil kyrillische Schrift.

Und für viele Serben ist Princip bis heute kein Mörder, sondern ein Patriot. Als ich mich in der Baščaršija, Sarajevos malerischer, im bosnischen Teil gelegenen Altstadt, im Touristenbüro nach dem Denkmal erkundige, das am 28. Juni auf serbischem Gebiet für Gavrilo Princip errichtet wurde, ist man dort sehr kurz angebunden. Sie wisse nichts von einem solchen Denkmal, sagt die Dame hinter dem Tresen peinlich berührt. Bei einem Kellner, der mich in einer der typischen Cevabdzinicas bedient, habe ich mehr Glück. Er heißt Adnan, hat während des Bosnienkriegs als Kind zwei Jahre in Düsseldorf gelebt und spricht vorzüglich Deutsch. „Gesehen habe ich dieses Denkmal auch noch nicht, weiß aber ungefähr, wo es stehen muss“, sagt er und erklärt mir, wie ich mit dem Oberleitungsbus nach Nova Sarajevo komme. Dass ich irgendwann die Grenze passiert habe, erkenne ich nur an der Beschilderung, die nun in kyrillischen Buchstaben geschrieben ist.

Die Statue des Attentäters ist ganz offensichtlich kein Wallfahrtsort

Ich frage mich durch, erreiche schließlich ein Neubaugebiet und entdecke dort in einem kleinen Park das Denkmal, das nationalistische Serben Ende Juni dem Mann gesetzt haben, der den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Die etwa lebensgroße Bronzestatue steht auf einem kleinen Sockel und wirkt denkbar unpathetisch. Das ist kein großer Held, sondern ein junger Mann, und wenn man nicht wüsste, wer Gavrilo Princip war, würde man ihn vielleicht für einen idealistischen Dichter halten. Die Inschrift nimmt jedenfalls keinen Bezug auf das Attentat vor 100 Jahren. Auf den Bänken des benachbarten Spielplatzes sitzen ein paar junge Frauen, die ihren Kindern beim Buddeln im Sandkasten zuschauen. Sonst bin ich hier allein, die Statue ist ganz offensichtlich kein Wallfahrtsort und interessiert auch die Bewohner der Republika Srpska nur am Rande. Dafür gibt es zu viele offene Wunden aus jüngerer Zeit, zu viele Erinnerungen an Krieg und Tod, an Täter und Opfer aus dem Bosnienkrieg, der von April 1992 bis Dezember 1995 mehr als 100.000 Todesopfer forderte.

Als die Serben im Mai 1992 den Belagerungsring um Sarajevo schlossen, wurde auch von hier auf den bosnisch-kroatischen Teil der Stadt geschossen, wie von den umliegenden Bergen, auf denen die jugoslawische Armee ihre Stellungen hatte. Der Taxifahrer, den ich heranwinke, hat eine kleine Ikone unter dem Rückspiegel hängen, ist also Serbe. Dass ich mich zum Fluchttunnel fahren lasse, nimmt er ungerührt zur Kenntnis, der Weg ist nicht weit bis zu dem kleinen Museum, das an die verborgene Lebensader der belagerten Stadt erinnert. Bis ganz an dieses Zeugnis des bosnischen Überlebenswillens heran will er nicht fahren, lässt mich 100 Meter vor dem Bauernhaus aussteigen, in dem sich einst der Eingang zu dem 800 Meter langen Tunnel befand, den die Belagerten unter äußerster Geheimhaltung gegraben hatten. Es war der einzige Weg, auf dem man die eingeschlossene Stadt verlassen konnte. Er verläuft direkt unter dem Flughafen, der damals von der Uno kontrolliert wurde. Ein paar Meter kann man noch heute in den nur anderthalb Meter hohen Gang hineingehen, den während des Kriegs etwa 3000 Menschen pro Tag nutzten. „Die bosnische Armee brachte auf diesem Weg Soldaten, Munition, Medikamente und Lebensmittel in die Stadt. Viele Menschen flohen durch den Tunnel aus Sarajevo. Mein Onkel hat das auch gemacht, er lebt heute als Geschäftsmann in Sydney“, erzählt mir der junge Bosnier, der mich durch das Museum führt. Mit dem Abkommen von Dayton konnte der Krieg zwar 1995 beendet werden, aber gelöst wurde der Konflikt zwischen den Bosniern, Kroaten und Serben nicht. Der Hass lodert heute zwar nicht mehr, aber er wurde nur eingefroren, eine Versöhnung ist weit entfernt.

Was auch an der geteilten Erinnerung liegt, an der jeweils eigenen Sicht auf die tragischen Ereignisse, der Trauer nur um die eigenen Opfer. Eine serbische Englischlehrerin, mit der ich an der Bushaltestelle in dem zur Republik Srpska gehörigen Teil von Sarajevo ins Gespräch komme, erzählt mir von der serbischen Hochzeitsgesellschaft, die am 1. März 1992 im Altstadtviertel Baščaršija unbeschwert gefeiert hatte, als der bosnische Soldat Ramiz Delalić das Feuer auf sie eröffnete und dabei den 55-jährigen Serben Nikola Gardović tötete. Damit habe alles begonnen, sagt sie unter Tränen.

Die Bosnier erinnern sich anders, für sie begann die Katastrophe am 5. April 1992, als ein serbischer Heckenschütze vom Hotel Holiday Inn auf eine Menschenmenge schoss und dabei die 25-jährige bosnisch-muslimische Medizinstudentin Suada Dilberović und die 34 Jahre alte Kroatin Olga Sučić töteten. Die Brücke, auf der sie starben, trägt heute ihren Namen. Ein Denkmal erinnert dort an sie. Das Holiday Inn gibt es noch heute, während des Kriegs waren hier die internationalen Journalisten untergebracht. Direkt davor verläuft die schnurgerade Straße, die bis heute allgemein Snajperska aleja, Snipers Alley, genannt wird, weil sie während des Kriegs von Heckenschützen unter Beschuss genommen wurde. Wie viele Menschen hier gestorben sind, weiß niemand. Ich gehe am Holliday Inn vorbei und schaue auf das atemberaubende Bergpanorama, dessen Schönheit sich mir nicht mehr erschließt, wenn ich mir vorstelle, wie die jugoslawische Armee aus dem Gebirge auf die Menschen und Häuser geschossen hat.

Wo sich die Stadt an ihren Rändern die Hügel hinaufschwingt, leuchten überall die strahlend weißen Grabsteine der Friedhöfe, auf denen die Opfer damals in aller Eile beigesetzt wurden. In dem gleich neben dem aus Geldmangel geschlossenen Nationalmuseum gelegenen Café Tito, einer Kultkneipe, in der der Gründer des untergegangenen Staates mit Postern, Bildern und Erinnerungsstücken noch gegenwärtig ist, erfahre ich durch ein an der Wand hängendes Poster von „Romeo und Julia“. In Wahrheit hießen sie Admira Ismic und Bato Brkic, sie war bosnische Muslima, er serbischer Christ. Acht Jahre lang waren die beiden ein Paar, als sie sich im Mai 1993 zum Verlassen der belagerten Stadt entschlossen. Zuvor hatten sie sich sowohl von bosnischer wie von serbischer Seite freies Geleit zusichern lassen.

Eine Bosnierin und ein Serbe in Liebe vereint – sie wurden erschossen

Am 19. Mai gegen 17 Uhr erreichte das Paar die Brücke, über die sie in den von den Serben besetzten Stadtteil Grbavica gelangen wollten, als Bato von einer Kugel tödlich getroffen wurde. Kurz danach traf eine zweite Kugel Admira, die im Sterben noch ihren Arm um Bato legte. Die Leichen lagen noch tagelang auf der Brücke, da die Verhandlungen für eine Feuerpause zu ihrer Bergung immer wieder scheiterten.

Ein bosnischer Chemiestudent, der im Café Tito am Nebentisch sitzt, erklärt mir, wo ich das Grab des Paares finden kann. Zu Fuß gehe ich den langen Weg durch die Stadt in Richtung des schon am Hang gelegenen Sportzentrums, das für die Winter-Olympiade 1984 gebaut wurde. Gleich zu Beginn des Kriegs nahmen die Serben die Olympiaanlagen unter Feuer, viele Opfer wurden gleich nebenan bestattet. Der Löwen-Friedhof, der seinen Namen einer eindrucksvollen Löwenstatue am Eingang verdankt, ist aber sehr viel älter. Hier sind viele Grabsteine mit deutschen Namen zu finden, von österreichischen Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs hier bestattet wurden. Irgendwo hier muss auch das Grab von Admira und Bato sein, für das sich offenbar kaum einer der vielen Touristen interessiert, die in diesem Gedenkjahr nach Sarajevo gekommen sind.

Ich gehe die Wege ab, gelange von österreichischen Soldatengräbern zu den pathetischen Grabsteinen von Partisanen und Patrioten des jugoslawischen Staates, den es längst nicht mehr gibt. Als ich schon fast aufgeben will, entdecke ich dann doch noch das Grab von „Romeo und Julia aus Sarajevo“. Es besteht aus poliertem Marmor in Form eines Herzens, auf dem das Porträt des jungen Paares graviert ist. Kein anklagender Text ist auf diesem Stein zu finden, nur die Namen Admira und Bato, die Namen der Bosnierin und des Serben, die ihre Liebe über den Krieg retten wollten und dafür kaltblütig ermordet wurden.