Am Sonntag finden die vorgezogenen Wahlen in dem krisengeschüttelten Land statt. Poroschenko-Partei liegt in Umfragen an der Spitze

Hamburg. Rund elf Monate nach Beginn der Maidan-Proteste gegen den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch wählt die Ukraine am Sonntag ein neues Parlament. Das Land hat sich seit der Parlamentswahl 2012 drastisch verändert: Die Halbinsel Krim wurde von Russland annektiert, im Osten wütet ein Konflikt, in dessen Verlauf Tausende Menschen ihr Leben verloren.

Auch das Parlament ist ein anderes geworden. Nach der Reform vom Februar haben die Abgeordneten wesentlich mehr Gestaltungsmacht als unter dem gestürzten Janukowitsch. Und nach neuerlichen Protesten auf dem Maidan und dem Bruch der Regierungskoalition durch die Austritte der rechtsradikalen Freiheitspartei (Swoboda) und Vitali Klitschkos „Schlag“ (Udar) sind endgültig Neuwahlen notwendig geworden. Mit dem Urnengang am Sonntag verbinden viele Menschen in der Ukraine die Hoffnung auf einen politischen Neustart und auf den Beginn umfassender Reformen. Vor allem eines ist bemerkenswert: Bei dieser Wahl tritt eine größere Anzahl von Kandidaten aus der Zivilgesellschaft und aus den Medien zur Wahl an.

Der ukrainische Politikwissenschaftler Ostap Krivtsun hebt hervor, dass das vorherige Parlament in der Ukraine ineffektiv, schwach und kriminell war. Eine Ministerin ist derzeit auf der Flucht vor der Polizei. „Deshalb hatten die Demonstranten vom Maidan während ihrer Proteste hohe Anforderungen an die Kandidaten für ein neues Parlament gestellt und frische Gesichter in der Politik gefordert, unabhängig von der Macht der Oligarchen“, sagt Ostap Krivtsun. Der zweite Faktor, der auf diese Wahlen großen Einfluss nimmt, ist der Krieg im Osten des Landes. Wegen der instabilen Situation werden die Krim und teilweise auch die Region um die Stadt Donezk an der Abstimmung nicht teilnehmen. „Mehrheitlich würden die Leute dort ihre Stimmen prorussischen Politikern geben, die einen ukrainischen Staat nicht unterstützen“, sagt Krivtsun dem Abendblatt. Das bedeute, dass ein neues Parlament ohne Stimmen aus dem Donbass und von der Krim eine proeuropäische Mehrheit bekommen werde.

In der Ukraine werden insgesamt 450 Parlamentssitze vergeben, jeweils zur Hälfte über Parteilisten und über Direktmandate. Laut der letzten Umfrage werden sechs politische Parteien ins Parlament einziehen. Die Partei des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko, Blok Poroschenko, erreicht in den Umfragen 28,3 Prozent. Der zweite Platz geht mit 12,6 Prozent der Stimmen unstrittig an die Radikale Partei (Radykalna Partija) des nationalistischen Populisten Oleg Ljaschko. Die Volksfront (Narodnij Front) von Premierminister Arsenij Jazenjuk steht in Umfragen bei 10,9 Prozent. Der Oppositionsblock bekäme demnach 8,7 Prozent, die neue Partei Selbsthilfe (Samopomitsch) des Bürgermeisters von Lviv, Andriy Sadovyi, 8,5 Prozent der Stimmen, und die Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna) 7,1 Prozent. Auch die Parteien Syla Ljudei (Stärke der Menschen) und die Zivile Position (Hromadianska Positsija) haben Chancen, die Fünfprozenthürde zu überwinden.

Auf den Parteilisten stehen viele Aktivisten der Proteste gegen das alte prorussische Regime des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Auch Journalisten kandidieren, zum Beispiel der langjährige Star des regierungskritischen Journalismus, Mustafa Najem (Hromadske.tv, Ukrajinska Prawda), der die Maidan-Proteste gegen das Janukowitsch-Regime initiiert hatte, oder Sergij Leschtschenko (Ukrajinska Prawda). Auch Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen hoffen auf den Einzug in das Parlament.

Die Menschen in der Ukraine reagieren nicht nur positiv auf die hohe Anzahl an Kandidaten aus dem Journalismus. „Auf der einen Seite waren diese Journalisten wie eine Lokomotive bei den vielen Veränderungen in der Ukraine“, sagt die Medienexpertin und Redakteurin von „Telekritik“, Nataliya Ligatschova, dem Abendblatt. Diese Menschen mit dem Wunsch nach Reformen in der Ukraine seien wichtig im neuen Parlament. Andererseits verschwinde durch den Abgang in die Politik jedoch eine hohe Anzahl an guten Journalisten aus den Redaktionen. „Doch auch dort werden kritische Geister für den Aufbau einer demokratischen Ukraine gebraucht“, sagt Ligatschova.

Journalisten wie Najem oder Leschtschenko haben den investigativen Journalismus in dem Land geprägt. Experten wie Ligatschova bezweifeln, dass ein guter Journalist auch ein guter Politiker sein könne. „Das müssen die Kandidaten erst einmal in der Praxis der Politik beweisen“, so Ligatschova. Zudem, sagen verschiedene Experten, würden den Anfängern in der Politik die wichtigen Kontakte zu anderen Parteien und Abgeordneten fehlen. Deshalb seien sie nur bedingt wettbewerbsfähig.