Die Türkei verfolgt mit Nichtstun im Kampf um Kobane eine riskante Strategie: Sie will einen Kurdenstaat verhindern und mehr Einfluss gewinnen

Ankara. „Wir werden alles tun, um den Menschen von Kobane zu helfen. Sie sind unsere Brüder“, sagte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu vor wenigen Tagen. Und der aufstrebende junge Kurdenführer Selahattin Demirtaş, Chef der linken HDP-Partei, war nach einem Gespräch mit Davutoğlu geradezu erleichtert: Er sei nun überzeugt, dass die Türkei nicht zulassen werde, dass die seit Mitte September von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) belagerte syrische Kurdenstadt Kobane fallen werde. Doch bislang passierte nicht viel. Starke Verbände türkischer Truppen zogen auf. Doch dann sahen sie aus wenigen Hundert Metern Entfernung zu, wie die Verteidiger von Kobane Tag für Tag in einen immer engeren Kessel zurückgedrängt wurden. Sie schlossen die Grenze, um zu verhindern, dass Tausende kurdische Freiwillige aus der Türkei, die Kobanes Verteidigern helfen wollten, über die Grenze gelangten. Sie verhinderten Nachschub an Waffen oder Munition. Ganz im Gegensatz dazu waren die Grenzen zu Syrien für islamistische Kämpfer lange Zeit offen geblieben, bis vor etwa einem halben Jahr die Klagen der Staatengemeinschaft darüber zu laut wurden.

Tatsächlich wurde die Türkei zum Riegel am Schloss des eisernen Belagerungsringes um Kobane. Und hinter den Kulissen nahm Ankara die Führer der Belagerten in den Würgegriff. Die Türkei fordere die totale Unterwerfung der Kurden als Bedingung für jegliche Waffenhilfe, hieß es vonseiten der syrischen Kurdenführung. Die Kurden mögen auch künftig jegliche Forderungen nach Autonomie aufgeben und sie sollten sich gegen das Regime des syrischen Diktators Baschar al-Assad wenden. Am Dienstag schien eine Meldung der regierungsnahen türkischen Zeitung „Sabah“ diesen Kurs zu bestätigen. Der syrische Kurdenführer Salih Muslim habe die Erfüllung all der Bedingungen zugesichert, schrieb „Sabah“. Geradezu kunstvoll und raffiniert verfolgt die Türkei damit eine vielschichtige Strategie gegenüber den Kurden im eigenen Land, im Irak und in Syrien, um eine vermeintliche separatistische Gefahr zu bannen und den eigenen Einfluss in der Region auf Jahre hinaus zu stärken.

Diese Strategie umfasst drei Elemente. Unproblematisch ist die autonome Kurdenregion im Nordirak. Längst ist dies de facto ein türkisches Protektorat geworden, dessen Führer sich mit Ankara arrangiert haben und dazu beitragen, den Irak zugunsten der Türkei zu schwächen. Die Kurden in Syrien sind dagegen das größte Problem: Sie hatten ein autonomes Gebiet ausgerufen, welches an das bereits existierende Kurdengebiet im Nordirak grenzt, und sie gehören zur PKK, die in der Türkei die schlagkräftigste und radikalste Kurdenorganisation ist. Die Vergrößerung von autonomen Kurdenregionen bei gleichzeitiger Stärkung der PKK ist ein Albtraum für Ankara. Denn dies würde in Richtung eines nicht nur unabhängigen, sondern auch von der Türkei unabhängig denkenden Kurdistan führen.

Insofern könnte man in Ankara jetzt zufrieden sein, dass der Islamische Staat die Kurden aufreibt und ihr Gebiet reduziert. Die Kurden der Region glauben, dass Ankara genau deswegen die Islamisten lange unterstützte. Kobane hätte eine Art geografische Brücke zwischen den Kurdengebieten im Nordosten und Nordwesten Syriens werden können. Die ethnische Säuberung dieses Gebiets reduziert die Kurden auf zwei getrennte Zipfel an den Grenzen zum Irak und zur Türkei. Was bleibt, stört dann nicht, wenn es sich der Türkei unterwirft. Das dritte Element der türkischen Kurdenstrategie betrifft die PKK selbst und die türkischen Kurden. Seit einiger Zeit findet ein prekärer Friedensprozess zwischen der Regierung und der PKK statt, Waffenstillstand gegen politische Dezentralisierung und mehr kulturelle Rechte. Das ist ein schwieriger Spagat, denn die PKK versteht genau, wie sehr die türkische Politik ihren Interessen widerspricht, indem sie gegen Syriens PKK-treue Kurden vorgeht. Hier geht es darum, die Schmerzgrenze auszuloten: Ein Massaker in Kobane kann die PKK nicht hinnehmen. Deshalb wäre es auch möglich, dass die Türkei in letzter Minute etwas unternimmt, um die Stadt zu retten, nicht aber das bereits vom IS eroberte Gebiet darum herum.

Wenn Ankara dennoch dem taktischen Ziel, die syrischen Kurden zu schwächen, Vorrang gibt vor dem strategisch wichtigeren Ziel einer Lösung des PKK-Konflikts, dann könnte das leicht schiefgehen. Bereits am Montag und Dienstag kam es zu gewalttätigen Kurden-Demonstrationen in mindestens sechs türkischen Städten. Fällt Kobane, so sieht es für eine künftige Aussöhnung mit den Kurden schlecht aus. Die Schlacht wird von vielen Kurden als Schlüsselmoment ihrer Geschichte empfunden. Wie sie ausgeht, wird die kurdische Identität und ihre Haltung gegenüber der Türkei langfristig beeinflussen. Ankara versucht sich an der Quadratur des Kreises: Die Türkei will die diversen kurdischen Gruppen schwächen, sie gegeneinander ausspielen und sie dabei an sich binden. Ob das gelingt, hängt nicht zuletzt von den Kurden selbst ab.