Studentenproteste für mehr demokratische Rechte weiten sich aus. Peking verhängt Nachrichtensperre

Hongkong. Telefonanrufe klingelten am Sonntagmorgen gegen drei Uhr früh Propagandaverantwortliche in Peking aus dem Schlaf. „Hongkonger Studenten sorgen für neue Unruhe“, stand auf den Displays ihrer Mobiltelefone. Sie erfuhren, dass Zehntausende Studenten seit Mitternacht den Regierungssitz des Verwaltungschefs in der Hongkonger City belagerten und nach demokratischen Wahlrechten riefen. Die Massenproteste der Schüler und Studenten, die mit Vorlesungsboykotten begannen, hatten sich in der Nacht auf Sonntag entzündet.

Auslöser war das Vorgehen der Hongkonger Polizei, die am Vortag alle Kundgebungen auflöste und mehr als 78 Personen vorübergehend festnahm. Eine Nachricht sei besonders brisant, sagte einer der frühmorgens alarmierten Funktionäre: Auch Hongkongs Bürgerrechtsbewegung Occupy Central, die sich nach dem Namen des Finanzdistrikts Central nennt, habe sich den Studentenprotesten angeschlossen. Ursprünglich wollte sie erst am Mittwoch mit Kundgebungen gegen Chinas Hongkong-Politik protestieren. Nun kündigte ihr Sprecher Benny Tai Yiu-ting an, sich sofort den Studentenaktionen anzuschließen und mit friedlichen Demonstrationen und Sit-ins den Finanzdistrikt der Stadt lahmzulegen. Hongkong müsse einen „neuen Anlauf gegen die schleichende Aushöhlung seiner Rechte nehmen“. Er rief zur gemeinsamen „Kampagne des zivilen Ungehorsams“ aller Hongkonger gegen Pekings Politik auf.

Bis 1997 war die Finanzmetropole eine britische Kronkolonie. Ihre friedliche Rückgabe an die Volksrepublik wurde möglich, als Peking erlaubte, dass sich Hongkong 50 Jahre lang nach der Sonderregel „Ein Land, zwei Systeme“ selbst regieren kann. Es darf seine Marktwirtschaft und alle freiheitlichen Bürgerrechte behalten und soll ab 2017 seinen Verwaltungschef in freien und fairen Wahlen bestimmen können.

Die latente Angst der Hongkonger, dass Peking ihren Sonderstatus Stück um Stück wieder demontieren lässt, entzündete sich am Streit über das Wahlrecht für 2017. Im Juni schränkte zuerst ein „Weißbuch“ der chinesischen Regierung Hongkongs Selbstbestimmungsrechte ein. China habe „umfassende Jurisdiktion“ über alles, was in Hongkong passiert. Im September pressten neue Bestimmungen des Volkskongress die Rechte der Hongkonger im Wahlverfahren in ein enges Korsett von Vorbehalten.

Danach werden 2017 die mehr als fünf Millionen Wahlberechtigten nur zwischen zwei bis drei Kandidaten auswählen dürfen, die von einem Wahlgremium mit 1200 Mitgliedern nominiert werden. Mehrheitlich steht das Gremium Peking politisch nahe. Kandidat kann nur werden, wer mindestens von der Hälfte der Mitglieder des Gremiums akzeptiert wird. Alle Proteste und versuchten Volksabstimmungen, die die Hongkonger Bürgerbewegung Occupy Central organisierte, wurden von Pekings Behörden für illegal erklärt.

Die Wucht der jüngsten Demonstrationswelle der Schüler und ihre Ausweitung zum Massenprotest hat die chinesische Führung ebenso aufgeschreckt wie die Regierung in Hongkong. Peking fürchtet bei einer Eskalation auch die öffentliche Demontage seines Vorzeigemodells „Ein Land, zwei Systeme“. Am Freitag hatte Staats- und Parteichef Xi Jinping vor hochrangigen Politikern und Konzernchefs aus Taiwan gerade erst für die „friedliche Wiedervereinigung“ Chinas mit der abtrünnigen Inselrepublik nach dem Hongkonger Modell geworben.

Zudem weiten sich Hongkongs Proteste unmittelbar vor dem 65. Nationalfeiertag der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober aus. Hunderttausende chinesischer Bürger werden während der einwöchigen Staatsfeiertage Hongkong besuchen und würden mitten in die Demonstrationen gegen ihre Regierung geraten.

Die Führung in Peking verhängte eine fast eintägige Nachrichtensperre über die Proteste. Am Sonntagnachmittag äußerte sich dann ein Sprecher des Staatsrats für Angelegenheiten von Hongkong und Macau. „Die Zentralregierung verurteilt entschieden alle illegalen Aktionen, die Recht und Gesetz und die soziale Ordnung verletzen.“ Der Sprecher betonte, dass alle von Chinas Volkskongress zu Hongkong erlassenen Beschlüsse „rechtskräftig und rechtsgültig sind“.

Mit so viel Rückendeckung aus Peking verteidigte sich Verwaltungschef Leung Chun-ying am Nachmittag gemeinsam mit seinem Polizeichef Andy Tsang. Leung, der sich geweigert hatte, mit den Studenten einen Dialog zu führen, nannte die Polizeiaktionen gegen sie am Vortag recht- und verhältnismäßig. Er sagte seine Bereitschaft zu, „weitere Konsultationen“ über die „nächste Phase“ des Wahlverfahrens für 2017 zu führen. Aber er blieb bei seiner harten Linie, dass die Entscheidungen des Volkskongresses gültig sein. Seine Regierung werde Proteste vor ihrem Sitz und die von Occupy Central angekündigten Kundgebungen im Finanzdistrikt nicht tolerieren. Sie seien illegal.