Auf der Flucht vor der Terrormiliz fliehen Zehntausende aus Syrien. Doch Ankara schließt die meisten Übergänge

Ankara. Es sind hauptsächlich Frauen, Kinder, alte und kranke Menschen, die in langen Schlangen in Richtung der rettenden türkischen Grenze ziehen. Wer in der sengenden Hitze nach Stunden nicht mehr weitermarschieren kann, der wird auf dem Rücken, in Schubkarren oder in Rollstühlen über Feldwege transportiert.

Nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) waren es am Wochenende 70.000 Flüchtlinge, die von Syrien aus in das Nachbarland kamen. Am Montag sind es bereits 130.000. Und es werden immer mehr. Es sind die Bewohner der kurdischen Stadt Kobane und umliegender Dörfer (auf arabisch Ain al-Arab), die panikartig vor den heranrückenden Milizen des Islamischen Staates (IS) flüchten.

Die Türkei hatte nach einigem Zögern die seit Jahren geschlossenen Grenzübergänge in den kurdischen Teil Syriens geöffnet. Viele der Zehntausende Flüchtlinge mussten zuvor tagelang am Grenzzaun ausharren. „Wir sind hier seit vier Tagen ohne Wasser und Essen, unsere Kinder hungern“, erzählte eine verärgerte Mutter über ihre verzweifelte Lage. „Wir wurden bombardiert und aus unserem Heim vertrieben. Wir brauchen dringend eine Unterkunft.“

Am Montag kam jedoch der Rückzieher der Türkei. Von den neun Übergängen der Region sind nur noch zwei geöffnet. Ein Grund dafür könnten die Konfrontationen auf der türkischen Seite zwischen Sicherheitskräften mit Demonstranten gewesen sein. Sie waren zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge gekommen. Unter ihnen waren auch die Bürgermeisterin von Diyarbakir und ein Parlamentsabgeordneter, der bei den Tumulten verletzt und ins Krankenhaus gebracht wurde.

Der wahre Grund für die Reduzierung der Übergänge dürfte aber die bessere Übersicht und Kontrolle des Grenzverkehrs sein. Denn die Türkei stoppt möglichst alle jungen Männer, die nach Kobane wollen, um sich dort den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) im Kampf gegen IS anzuschließen. Die YPG hatte gemeinsam mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in einem Appell an die Kurden in der Türkei zum bedingungslosen Kampf gegen IS aufgerufen: „Die jungen Leute müssen nach Kobane kommen, um sich dem historischen und ehrenhaften Widerstand anzuschließen.“ Die PKK selbst kritisierte die Türkei scharf als IS-Unterstützer.

Tatsächlich wirft die Abweisung der Anti-IS-Kämpfer an der Grenze wieder einmal kein gutes Bild auf die Türkei. Gerade nach der Freilassung der 49 türkischen Geiseln aus IS-Gefangenschaft kommen neue Zweifel an der Haltung Ankaras auf. Seit Jahren steht die Regierung unter dem Verdacht, radikale Islamisten in Syrien zu unterstützen. Sie hat Tausende von Kämpfern ungehindert nach Syrien einreisen lassen und soll logistische wie militärische Hilfe geleistet haben. Jedenfalls ist es bisher noch keinem Staat gelungen, in einer Rekordzeit von drei Monaten IS-Geiseln freizubekommen.

Und das ohne jede Gegenleistung, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mehrfach betonte. Andere Entführte kommen erst nach sechs Monaten oder auch zwei Jahren frei – vorausgesetzt, es wurde ein Lösegeld in Millionenhöhe bezahlt. Die Türkei muss exzellente Beziehungen zu IS haben. Gut informierte Kreise sprechen von einem Deal der Regierung mit dem Führer der Extremistenmiliz, Abu Bakr al-Baghdadi, der nach der Meldung einer türkischen Pro-IS-Webseite die Freilassung der Geiseln persönlich angeordnet habe. Gerüchteweise wird spekuliert, Ankara habe für jede Geisel einen Panzer geliefert. Wahrscheinlicher ist: Ein Teil des Deals sei die Absage der Türkei an die von der USA angeführte internationale Koalition gegen den IS. Ankara weigert sich nicht nur, an Militärschlägen teilzunehmen, sondern verbietet den USA, ihre eigene Luftwaffenbasis im Süden der Türkei für Luftangriffe auf die Terrormiliz zu benutzen. Ankara unterzeichnete zudem nicht das Kommuniqué arabischer Staaten, das stärkere Aktionen gegen den IS vorsieht. Zum Pakt soll auch die Zusicherung gehören, Kurden an der Grenze zu stoppen, die in Syrien gegen die Dschihadisten kämpfen wollen.

Der IS hatte am Mittwoch eine Großoffensive auf Kobane gestartet, wo allein 200.000 Vertriebene Zuflucht gefunden haben. Seit Monaten ist die strategisch wichtige Grenzstadt von der Außenwelt abgeschlossen. Den Bewohnern wurden Wasser und Strom abgedreht und Selbstmordattentäter geschickt. Der IS will Kobane mit aller Gewalt erobern. Die Extremisten setzten dazu schwere Waffen ein, die sie im Irak von der Armee erbeuteten und die großteils aus US-Beständen stammen. Zudem beschoss die Terrormiliz erstmals systematisch Wohngebiete. Der IS will eine menschenleere Stadt und treibt Zehntausende von Menschen in das Elend von Flüchtlingslagern.