Das Land hat immer noch keine neue Regierung. Die Neuauszählung der Präsidentenwahl zieht sich immer länger hin

Kabul. Fast eine halbe Stunde brütet der ältere Herr schon über den Dutzenden von Stimmzetteln, die vor ihm aufgereiht liegen. Sein Blick springt hin und her zwischen den Zetteln mit den Konterfeis und Symbolen der Präsidentschaftskandidaten Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani, er hat die Blätter nach Gruppen geordnet, die er immer wieder neu sortiert. Der Uno-Vertreter muss entscheiden, ob die Häkchen auf den Zetteln dieselbe Handschrift tragen. Falls ja, wäre das ein sicherer Hinweis auf Manipulation, der zur Ungültigerklärung einer gesamten Wahlurne führen könnte.

Auch Wählerverzeichnisse, in denen wieder und wieder dieselben Ausweisnummern aufgeführt werden, sind verdächtig; wenn der Strichcode einer Urne von dem der Wahlunterlagen abweicht oder wenn sämtliche Stimmenzettel für nur einen Kandidaten abgegeben wurden, gar packenweise ineinandergefaltet, dann liegt ebenfalls Betrug nahe. „Betrug ist längst Teil des Wettbewerbs“, sagt Martine Van Bijlert vom Forschungsinstitut Afghanistan Analysts Network (AAN) in Kabul. „Es hat Wahlfälschung auf beiden Seiten gegeben. Manche an der Spitze der Wahlkommission haben wohl Ghani unter die Arme gegriffen. Aber auf lokaler Ebene haben auch Wahlhelfer für Abdullah gearbeitet.“

Als am 12. Juli unter Vermittlung des US-Außenministers John Kerry die Überprüfung sämtlicher Stimmzettel der Stichwahl für den neuen afghanischen Präsidenten verabredet wurde, hielt der Chef der afghanischen Wahlkommission drei Wochen für ausreichend, um die rund 23.000 Wahlurnen zu untersuchen. Seither sind immer neue Fristen verstrichen. Wann Afghanistan einen neuen Staatschef haben wird, steht in den Sternen. Wenn Jan Kubis, Chef der Uno-Unterstützungsmission in Afghanistan, jetzt bis zum 10. September mit einem amtlichen Endergebnis rechnet, dann sei das „sportlich“, sagt einer, der die Nachzählung im Auftrag der Uno überwacht. Dabei braucht Afghanistan zweieinhalb Monate nach der Stichwahl dringend einen neuen Präsidenten. Einen, der das Land mit Autorität und Legitimation beim Nato-Gipfel in Wales in dieser Woche vertreten kann.

Doch noch immer werden in vier schlecht belüfteten Hallen am Stadtrand der afghanischen Hauptstadt jeden Tag in zwei Schichten Wahlurnen gesichtet. Bis zum Wochenende sind mehr als 80 Prozent der 8,2 Millionen Stimmzettel geprüft worden. Aber rund die Hälfte der Behälter aus besonders umstrittenen Wahllokalen harrt noch der Kontrolle, und die Überprüfung dieser Behälter dauert manchmal Tage.

Abdullah Abdullah, einst Außenminister, hatte in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl die meisten Stimmen, aber nicht die absolute Mehrheit errungen. In der Stichwahl verbuchte Ashraf Ghani dann mehr als eine Million Stimmen Vorsprung. Für seinen Konkurrenten ein klarer Fall von Betrug, verabredet mithilfe des amtierenden Präsidenten Harmid Karsai und der Spitze der afghanischen Wahlkommission. Ein Vorsprung dieses Umfangs erscheint tatsächlich zweifelhaft.

Abdullah Abdullah droht inzwischen mit dem Rückzug aus den politischen Verhandlungen über eine Große Koalition. Eine solche Regierung, die Mitglieder beider Lager einbindet, war Teil der Vereinbarung, mit der Kerry die Rivalen im Juli zur Zusammenarbeit bewegt hatte – dem Verlierer sollte die Niederlage versüßt werden.

Auch die Verhandlungen über Minister-, Gouverneurs- und Polizeichefposten gestalten sich schwierig. Je größer die Koalition, desto geringer die Pfründe für Einzelne. Gerüchteweise verlangt auch Präsident Karsai Posten für seine Leute. Möglich, dass Karsai hinter den Kulissen weiter als Elder Statesman wirken will. Er hat allerdings auch Verbündete vor den Kopf gestoßen, insbesondere die USA, vor allem mit der Weigerung, das Bilaterale Sicherheitsabkommen (BSA) zu unterzeichnen. Amerikas Truppen könnten zwar auch über das Jahresende hinaus in Afghanistan bleiben, aber das BSA ist rechtliche Voraussetzung für die Isaf-Nachfolgemission „Resolute Support“, die der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und der Unterstützung von Anti-Terror-Operationen gegen die Taliban dienen soll. Deutschland will sich mit etwa 800 Soldaten an der Nato-geführten Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission beteiligen.

Ghani und Abdullah sind zur Unterzeichnung des Abkommens mit den Amerikanern bereit. Doch zum Nato-Gipfel in Newport reist Verteidigungsminister Mohammadi. Dieser wird auch keine Entscheidung über das andere große Problem herbeiführen können, das in Newport ansteht, sagt Graeme Smith von der International Crisis Group. „Angesichts des anhaltenden Aufstands muss Afghanistan die Geberstaaten zur Aufstockung der Mittel für die afghanischen Sicherheitskräfte bewegen.“ Es geht um bis zu drei Milliarden US Dollar mehr: „Dafür muss sich schon ein Präsident persönlich einsetzen.“

Nicht minder wichtig sind klare politische Impulse für die Lösung innerafghanischer Probleme. Die Konjunktur ist mit dem ausländischen Abzug eingebrochen. Das Hickhack um den Wahlausgang hat die Krise verschärft: Immobilienmakler finden kaum noch Interessenten, obwohl die Mieten in den Keller gesackt sind, Unternehmer investieren nicht mehr, sondern schaffen ihr Vermögen ins Ausland. Insbesondere unter jungen Männern ist die Arbeitslosigkeit hoch. Die Kriminalität hat stark zugenommen: In Kabul gibt es immer häufiger Entführungen, Einbrüche, Überfälle auf offener Straße. Viele Afghanen ärgern sich, dass mit ihrem Votum offensichtlich Schindluder getrieben worden ist. Besonders den jungen Gebildeten ist das Gerangel um den Ausgang der Wahl und die Regierungsbildung geradezu peinlich. Große Enttäuschung herrscht vor allem unter jenen, die den Drohungen der Aufständischen zum Trotz gewählt haben. In beiden Wahlgängen habe er gestimmt, berichtet ein Mann aus dem Bezirk Sangin in Helmand, der vor den Kämpfen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften inzwischen nach Kabul geflohen ist. „Natürlich habe ich Ashraf Ghani gewählt. Schließlich ist er Paschtune wie wir.“ Und nun soll das Risiko, dass er auf sich genommen hat, umsonst gewesen sein?

Eigentlich seien Afghanen pragmatisch, wenn es um ihre Politiker gehe, sagt Martine Van Bijlert von AAN. „Aber die Desillusionierung ist groß. Nicht erst seit heute heißt es immer wieder: die Welt wollte uns Demokratie bringen, aber das hier, das ist keine Demokratie.“

Die Wirren um den Ausgang der Präsidentenwahl zeigen die Brüchigkeit der politischen Landschaft in Afghanistan und der demokratischen Institutionen des Landes. Die Gefahr ethnischer Fragmentierung und neuer Feindseligkeiten in Afghanistan will niemand ausschließen, auch wenn der politische Beobachter Jawad Kohestani eine Spaltung als „reine Theorie“ bezeichnet. Die USA und ihre Verbündeten sollten deshalb eine stärkere Truppenpräsenz nach 2014 als bislang geplant ins Auge fassen. Das würde ihnen einen politischen Hebel zur Mäßigung innerafghanischer machtpolitischer Begehrlichkeiten geben und könnte einen katastrophalen Rückfall in einen Bürgerkrieg verhindern.

Ob bei den USA und ihren Verbündeten der politische Wille dazu besteht, ist besonders angesichts des von Obama ausgerufenen globalen Rückzugs fraglich. Wie teuer das zu stehen kommen kann, zeigt das derzeitige Chaos im Irak.