Kreml-Chef stiftet Verwirrung mit Äußerungen über „Eigenstaatlichkeit“ der Ostukraine. EU uneins über weitere Sanktionen gegen Moskau

Moskau/Kiew. Unbeeindruckt von drohenden neuen Sanktionen des Westens geht Russland in der umkämpften Ostukraine weiter in die Offensive. Die am Wochenende vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Brüssel erneuerten Vorwürfe, in der Ostukraine seien neben russischen Panzern auch Tausende Soldaten im Einsatz, lässt Kremlchef Wladimir Putin weiter unbeantwortet. Stattdessen fordert er die Regierung in Kiew auf, mit den Separatisten endlich über den staatlichen Status im Südosten der Ukraine zu verhandeln. Soll das Gebiet – wie von den Separatisten gefordert – künftig als eigenständiger Staat unter dem historischen Namen Noworossija (Neurussland) fortbestehen?

Putin forderte am Sonntag Verhandlungen über eine Eigenstaatlichkeit für den Südosten des Landes. Die Gespräche „über die politische Organisation der Gesellschaft und die Eigenstaatlichkeit für die Südost-Ukraine“ müssten „sofort beginnen“, sagte er nach einem Bericht russischer Nachrichtenagenturen bei einem TV-Auftritt im russischen Staatsfernsehen. Ziel müsse es sein, die „gesetzlichen Interessen der dort lebenden Menschen zu schützen“.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bestritt anschließend, Putin habe damit einen eigenen Staat für die Rebellen verlangt, und dass Moskau eine Spaltung der Ukraine anstrebe. Die Rebellen sollten keinen eigenen Staat erhalten, allerdings müsse Kiew „die Interessen Neurusslands anerkennen“, sagte Peskow. Den Begriff „Neurussland“ hatte Putin in der Nacht zum Freitag in einer offiziellen Erklärung für die umkämpfte Südost-Ukraine verwendet.

Experten haben jedoch schon länger keinen Zweifel mehr, dass Moskau ganz eigene Pläne für die Region hat. „Putin hat endgültig entschieden“, sagt der Kreml-kritische Moskauer Politologe Alexander Morosow. „Er glaubt, Neurussland solle existieren.“ In den kommenden Monaten würden die Strategen in Moskau die genauen Grenzen des Territoriums festlegen.

In dem Gebiet liefern sich prorussische Separatisten und ukrainische Regierungstruppen seit fast fünf Monaten erbitterte Kämpfe. Nach Uno-Angaben wurden bislang fast 2600 Menschen getötet. Am Montag soll im weißrussischen Minsk die Ukraine-Kontaktgruppe zusammenkommen, um erneut über ein Ende des Blutvergießens zu beraten.

Erst in der Nacht zum Sonntag hatte die EU Moskau mit neuen Sanktionen gedroht, sollte die „Aggression der russischen Streitkräfte auf ukrainischem Boden“ nicht gestoppt werden. Der Westen wirft Russland vor, Soldaten in das Gebiet entsandt zu haben, um die prorussischen Separatisten im Kampf gegen die ukrainische Armee zu unterstützen. Binnen einer Woche sollen die EU-Mitgliedstaaten nun über einen Vorschlag der Kommission entscheiden, ob weitere Personen und Unternehmen mit Strafmaßnahmen belegt werden, erklärte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy nach dem Gipfeltreffen der 28 Staats- und Regierungschefs in Brüssel.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte laut Diplomaten auf einen Sanktionsbeschluss schon vor dem am Donnerstag beginnenden Nato-Gipfel gedrungen. Ungarn, Zypern, Tschechien und die Slowakei drückten demnach aber auf die Bremse. Qualitativ neue Sanktionen – etwa ein Stopp von russischen Gasimporten – liegen nicht auf dem Tisch. Die Teilnehmer des Gipfels waren sich nach Merkels Angaben auch einig, „dass dieser Konflikt militärisch nicht zu gewinnen ist“. Deutschland „wird keine Waffen liefern“, sagte die Kanzlerin.

Die Differenzen in den Reihen der EU-Staats- und Regierungschefs traten deutlich zu Tage. Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann sagte, Strafmaßnahmen seien kein Allheilmittel. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico nannte neue EU-Sanktionen überflüssig und kontraproduktiv. „Wenn es Vorschläge gibt, behalte ich mir das Veto-Recht gegen Sanktionen vor, die das nationale Interesse der Slowakei schädigen“, sagte Fico. Etliche Regierungen fürchten negative Auswirkungen durch Sanktionen und russische Gegensanktionen auf die bereits schwache Konjunktur ihrer Länder.

Die Nato will angesichts der Ukraine-Krise künftig mehr Präsenz im östlichen Mitteleuropa zeigen: In den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie in Polen und Rumänien sollen nach Informationen der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ fünf neue Stützpunkte entstehen. Auf ihnen sollen jeweils 300 bis 600 Soldaten aus den Mitgliedstaaten stationiert werden, berichtet das Blatt unter Berufung auf einen hohen Nato-Beamten. Logistiker, Aufklärer und Einsatzplaner sollen dort Übungen vorbereiten und im Ernstfall auch Einsätze in den Ländern führen.

Die Details werden laut „FAS“ erst nach dem Nato-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Wales ausgearbeitet. Deutschland beteiligt sich von diesem Montag an für vier Monate mit sechs Kampfflugzeugen vom Typ „Eurofigther“ an der Nato-Luftraumüberwachung über dem Baltikum. Bereits im Frühjahr war die Zahl der über Estland, Lettland und Litauen eingesetzten Flieger von vier auf 16 aufgestockt worden. Damit will die Nato ein Zeichen der Solidarität mit ihren östlichen Mitgliedstaaten setzen, die sich angesichts der Annexion der Krim durch Russland und der Kämpfe in der Ostukraine von Russland bedroht fühlen.

Dort geraten die Kiew-treuen Kämpfer immer stärker in Bedrängnis. Am Sonntag liefen in der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer die Vorbereitungen auf einen Ansturm der Rebellen auf Hochtouren. „Wir können sie aufhalten, aber wie lange?“, sagte ein Kämpfer des „Asow-Bataillons“. Vor der Stadt wurden Gräben ausgehoben und Stacheldrahtbarrieren errichtet. Mariupol sei „die letzte große Stadt der Region unter ukrainischer Kontrolle“, sagte ein Kommandeur des Bataillons, das aus freiwilligen Kämpfern besteht. Nachdem die Soldaten aus Kiew in den vergangenen Wochen viele Städte zurückerobern konnten, starteten die Rebellen unlängst eine Gegenoffensive.

Die zehn russischen Fallschirmjäger, die am vergangenen Montag auf ukrainischem Territorium festgenommen worden waren, kehrten am Sonntag in ihre Heimat zurück – im Austausch gegen ukrainische Soldaten. Die Soldaten wurden am Morgen am Grenzübergang Nechotejewka den russischen Behörden übergeben. Im Gegenzug habe Moskau mehr als 60 ukrainische Soldaten freigelassen.

Unterdessen erreichte ein weiterer russischer Konvoi von 280 Lastwagen mit Hilfsgütern für die notleidenden Menschen in der Ostukraine die Grenze. Der Konvoi warte in der Region Rostow auf die Einfahrt in das Krisengebiet Donbass, berichtete das russische Staatsfernsehen. Die Hilfsgüter, darunter Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente, seien mit Zügen angeliefert und dann auf Lastwagen umgeladen worden, hieß es. Der Zeitpunkt des Grenzübertritts und die Marschroute würden geheim gehalten.

Die neue Hilfslieferung hatten Putin und Poroschenko Medien zufolge bei ihrem Treffen am vergangenen Dienstag in Minsk vereinbart. Zuvor hatte Russland mit den Lastwagen rund 2000 Tonnen humanitäre Hilfsgüter in die Ostukraine gebracht. Die Ukraine hatte dem Nachbarland daraufhin eine Invasion vorgeworfen, weil die Lastwagen ohne Zustimmung der Behörden die Grenze überquert hatten.