Erdogan spricht nach seinem Wahlerfolg von Sieg der Demokratie. Kritiker sehen genau diese unter dem künftigen Präsidenten der Türkei in Gefahr

Istanbul. „Willkommen, neue Türkei“, titelt die regierungstreue Zeitung „Yeni Safak“ am Montag nach dem Sieg von Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentenwahl. „Aksam“ – ebenfalls voll auf Regierungslinie – spricht von einer „Volksrevolution“. Als erstes direkt gewähltes Staatsoberhaupt der Türkei will der bisherige Regierungschef seine Macht noch ausbauen. Als Rechtfertigung dafür sieht Erdogan das klare Mandat des Volkes. Vor jubelnden Anhängern in Ankara sagt er: „Heute hat die Demokratie ein weiteres Mal gewonnen.“

Erdogans Kritiker befürchten das genaue Gegenteil: Dass der islamisch-konservative Politiker nun so mächtig wird, dass es um die Demokratie in der Türkei nicht gut bestellt sein könnte. „Die Atmosphäre der Angst, die im vergangenen Jahrzehnt im Land etabliert wurde, wird gefestigt werden“, warnt der Kolumnist Yusuf Kanli in der „Hürriyet Daily News“. Er sieht eine „große Gefahr für die türkische Demokratie“ und eine „neue und problematische Ära“ heraufziehen.

Erdogan versucht nach seinem Wahlsieg, solche Sorgen zu zerstreuen. Nach dem vorläufigen Endergebnis der Wahlkommission hat er 51,79 Prozent der Stimmen gewonnen. Der Kandidat der beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP, Ekmeleddin Ihsanoglu, sei auf 38,44 Prozent gekommen, teilt die Wahlkommission am Montag mit. Der Kandidat der prokurdischen Partei HDP, der Kurde Selahattin Demirtas, habe 9,76 Prozent der Stimmen erlangt. In seiner Siegesrede vom Balkon der Zentrale seiner Partei AKP gibt sich der sonst so polarisierende 60-Jährige Erdogan ungewohnt versöhnlich. „Lasst uns heute alle gemeinsam einen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess beginnen“, ruft er. „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen.“ Erdogan verspricht, Staatsoberhaupt aller 77 Millionen Türken zu sein.

Der Tenor hebt sich deutlich von seiner „Balkonrede“ nach dem AKP-Sieg bei der Kommunalwahl Ende März ab, als Erdogan seinen Gegnern drohte, sie bis „in ihre Höhlen“ zu verfolgen. Besonders seit den Gezi-Protesten gegen seinen autoritären Regierungsstil im vergangenen Sommer hat Erdogan die Gesellschaft zutiefst gespalten. Seine neuen versöhnenden Worte stoßen auf Misstrauen.

Nach der Parlamentswahl 2007 habe Erdogan ebenfalls „eine wunderbare Ansprache“ gehalten, sagt der Türkei-Experte Gareth Jenkins. „Er sagt manche dieser Sachen wieder, wir haben das zuvor gehört und gesehen, was danach passiert ist.“ Er glaube nicht, dass sich Erdogan als Staatschef ändern werde.

Misstrauen herrscht auch im Westen vor. Die EU gratuliert Erdogan zwar, verknüpft das aber mit der Mahnung, Erdogan solle sich der versöhnenden Rolle des neuen Amtes bewusst sein – herzlicher Glückwunsch klingt anders. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schreibt in einem Telegramm recht neutral: „Deutschland und die Türkei verbindet eine enge und vertrauensvolle Partnerschaft.“ Mit Blick auf die Krisen in Syrien oder im Irak fügt sie hinzu: „Derzeit haben wir in der Region schwierige Herausforderungen zu meistern. Der Türkei kommt hierbei eine große Bedeutung zu.“

Ähnlich hält es Bundespräsident Joachim Gauck: „Deutschland und die Türkei sind auf vielen Ebenen eng miteinander verbunden, wirtschaftlich, kulturell und vor allem auch auf menschlicher Ebene“, schreibt er an Erdogan nach Angaben des Bundespräsidialamts. „Auf all diesen Gebieten sehe ich gute Perspektiven für einen weiteren Ausbau der kooperativen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.“ Gauck hatte im April den Zorn Erdogans auf sich gezogen, als er bei einem Besuch in der Türkei Demokratiedefizite beklagte. Erdogan reagierte seinerzeit mit Empörung und warf dem Bundespräsidenten Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes vor. „Die bei meinem Besuch in Ihrem Land im April dieses Jahres begonnenen Gespräche werden wir sicherlich zu gegebener Zeit konstruktiv fortsetzen können“, heißt es nun in Gaucks Glückwunschschreiben an Erdogan.

Mit seiner rüden Rhetorik hat Erdogan viele Freunde im Ausland verloren. Wäre er international nicht so isoliert, könnte das Nato-Mitglied Türkei womöglich gute Dienste als Vermittler leisten – schließlich steht mit Syrien, dem Irak, Israel und der nicht weit entfernten Ukraine die ganze Region in Flammen.

Doch Erdogan wird zunächst damit beschäftigt sein, seine Macht zu konsolidieren – um sie später auszubauen. Vor seinem Amtsantritt muss er nicht nur das Amt des Ministerpräsidenten, sondern auch den Posten als AKP-Chef aufgeben.

Um seine Vision eines exekutiven Präsidenten zu verwirklichen, braucht er Nachfolger, die ihm dabei nicht in die Parade fahren – denn eigentlich ist der Ministerpräsident bislang derjenige, der die Türkei politisch führt. Interessant verspricht auch die Parlamentswahl im kommenden Jahr zu werden. Die AKP ist vor allem eine Einmannschau und voll auf ihren nimmermüden Wahlkämpfer Erdogan ausgerichtet – der sich als Präsident dann heraushalten müsste. Ob es einem Nachfolger an der Parteispitze gelingt, die Massen zu mobilisieren, ist offen. Für die von Erdogan angestrebten Verfassungsänderungen, mit denen die Macht des Staatsoberhauptes ausgebaut werden dürfte, ist die AKP aber auf einen klaren Sieg angewiesen.

Änderungen der Verfassung müssen von zwei Dritteln der Abgeordneten beschlossen werden – und von einer solchen Mehrheit ist die Partei derzeit noch weit entfernt.