Moskau zieht erneut Truppen an der Grenze zu der Ukraine zusammen. Die Nato ist besorgt. Und auch die Mehrheit der Russen ist gegen einen Einmarsch in das Nachbarland

Moskau. Das Damoklesschwert einer russischen Invasion hängt seit Monaten über der Ostukraine. Jetzt wächst die Angst vor dem Krieg erneut. Nach Angaben der Nato zieht Russland erneut Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen. Rund 20.000 kampfbereite Soldaten sollen sich dort mittlerweile befinden. Am Montag begann in Südrussland ein Großmanöver mit mehr als 100 Kampfflugzeugen.

Die Nato ist besorgt, dass Moskau eine humanitäre oder eine Friedensmission dazu missbrauchen könnte, um die Armee in die Ukraine zu schicken. Das wäre ein Déjà-vu des Georgien-Krieges von 2008: militärische Manöver, Einmarsch unter einem humanitären Vorwand. Auch der polnische Premierminister Donald Tusk sagte, dass nach seinen Informationen die Gefahr einer direkten Intervention Russlands in der Ukraine in den vergangenen Tagen stark gestiegen sei.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Vereinten Nationen (Uno), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), den Europarat und das Rote Kreuz dazu aufgerufen, eine „internationale humanitäre Mission“ in die Ukraine zu organisieren. Das ukrainische Außenministerium nannte den Vorschlag „zynisch, weil ausgerechnet Russland die Situation in der Ostukraine weiter destabilisiert“.

Bereits im April zog Russland 40.000 Soldaten an der Grenze zusammen

Bei der Sitzung des Uno-Sicherheitsrates sprach der russische Vertreter Witali Tschurkin über die „katastrophale Lage“ in Donezk und Lugansk. Die russischen Medien bezeichnen die ukrainische Armee seit Wochen als „Strafkommando“. Die russische Ermittlungsbehörde, die eindeutig zum Hardliner-Lager gehört, verbreitete die Information, in Slowjansk seien „verbotene Waffen“ – Bomben mit Brennstoff – benutzt worden. Ihre Schlussfolgerung zogen die russischen Ermittler, ohne vor Ort gewesen zu sein – anhand von Bodenproben, die ihnen übermittelt worden seien.

Bereitet Russland einen offenen Einmarsch vor? Oder sind die Manöver und die Truppen an der Grenze nur Säbelrasseln? Diese Fragen müssen sich ukrainische Militärs jeden Tag stellen. Im Prinzip wird dieser Nervenkrieg in der Ostukraine bereits seit März geführt. Nach der Krim-Annexion sah es so aus, als würde Russland als Nächstes die östlichen Gebiete angreifen, die Putin – und russische Medien – schon als Neurussland („Noworossija“) bezeichneten. Die Angst, dass die russische Armee die Gebiete von Charkiw bis Odessa annektieren und damit eine Festlandverbindung zur Krim und zum von Moskau kontrollierten Transnistrien schaffen könnte, war groß. Im April zog Russland zeitweise 40.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammen.

Die „Partei des Krieges“ in Moskau war schon im Frühjahr stark. Ein Plan der militärischen Annexion „Neurusslands“ lag mit Sicherheit auch Putin vor. Aus irgendeinem Grund aber entschied sich der Kreml zunächst für einen anderen Plan – für einen Stellvertreterkrieg statt einer offenen Invasion. Anstelle der regulären Armeeeinheiten sollten dort Truppen kämpfen, deren Ursprung niemand genau prüfen kann – Einheimische, Berufssoldaten aus Russland, Kriegsveteranen. Die Anführer aus Moskau oder mit Verbindungen zu Moskau sollten der Welt erklären, dass sie „den Willen des Volkes“ ausführten. Doch der Plan ging nicht auf.

Die Bevölkerung in anderen Teilen des vermeintlichen „Neurusslands“ wollte nicht nach Russland. Die ukrainische Armee ging in die Offensive gegen die Separatisten. Dann kam der Absturz der malaysischen Boeing, bei dem viele Indizien darauf hinweisen, dass der Abschuss der Passagiermaschine ein Versehen der Rebellen war. Die russische Wirtschaft hat die Sanktionen bereits zu spüren bekommen. Die Regierung sucht nach Auswegen, um die wegfallenden Einnahmen im Haushalt auszugleichen. Sie erklärte bereits, dass ein Teil von Renteneinlagen im nächsten Jahr eingefroren werden soll. In dieser Situation käme ein offener Einmarsch in die Ukraine einem Selbstmord gleich. Er würde zu noch härteren Sanktionen führen, der Krieg würde das Budget zusätzlich belasten. Es könnte zu einem wirtschaftlichen Kollaps kommen, der Putins Regime in den Abgrund ziehen würde. Ist er bereit, so hoch zu pokern?

Moskaus Säbelrasseln richtet sich auch an die Zuschauer in der EU

Ein wichtiger Punkt für Putin ist der Erhalt der Krim mit ihren für Russland geostrategisch wichtigen Marinebasen. Womöglich würde Putin versuchen, die zumindest inoffizielle Anerkennung der Krim-Annexion durch den Westen gegen den instabilen Frieden in der Ostukraine zu tauschen. Moskaus Säbelrasseln richtet sich auch an die Zuschauer in der EU. In Europa weiß niemand, was man machen würde, sollte Russland wirklich offen in die Ukraine einmarschieren. Vor die Wahl Krieg mit Russland oder Zugeständnisse an den Kreml gestellt, würde sich die EU im Zweifelsfall für mehr Zugeständnisse entscheiden.

Das Verhalten Russlands in der Ukraine-Krise ist so unvorhersehbar, weil es von den Entscheidungen eines einzigen Menschen abhängt: von denen des Präsidenten Wladimir Putin. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung einen Einmarsch nicht unterstützen würde. Jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum zufolge wären nur 26 Prozent dafür – und 61 Prozent dagegen. 58 Prozent glauben, dass Russland weiterhin Waffen an die Rebellen liefern muss. 63 Prozent der Russen befürworten vor allem wirtschaftliche Hilfen, 88 Prozent setzen auf diplomatische.